Individuelles Eingehen auf Schüler, und zwar ganztags - so sähe die ideale Schule nach Ansicht von Experten aus. Ob dafür aber mehr Geld in die Hand zu nehmen ist, blieb bei der STANDARD-Diskussion Dienstagabend umstritten.

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Wien - Ganztagsschule, Zentralmatura und mehr Schulautonomie. Frei nach dem Motto "Wenn ich Bundeskanzler wäre" erlaubte SP-Chef Alfred Gusenbauer am Dienstagabend tiefe Einblicke in sein rotes Bildungskonzept.

"Schule braucht Aufbruch" hatte das Thema der vom STANDARD gemeinsam mit der Industriellenvereinigung (IV) organisierten Podiumsdiskussion im Haus der Industrie geheißen. Es sollte ein Versuch sein, Schule ohne ideologische Scheuklappen mit Experten zu diskutieren. Die Gesamtschule - bildungspolitisches Konfliktthema - blieb unerwähnt. Stattdessen trat Gusenbauer für die Einführung einer Zentralmatura, also die Vereinheitlichung der Maturafragen zur Qualitätssicherung ein: "Das unterschreibe ich." Weiters nutzte der SPÖ-Chef die Gelegenheit, um ein Plädoyer für die Ganztagsschule zu halten. Die in Österreich übliche Halbtagsschule habe wenig mit der späteren Realität des Lebens zu tun. Eine Ganztagsschule biete viel eingehendere Möglichkeiten, individuelle Begabungen zu fördern. In diesem Zusammenhang meinte er übrigens: Der Arbeitsplatz der Lehrer sei an der Schule - ebenfalls ganztags.

Unterstützung erhielt er von Helmuth Aigner, Direktor der Höheren Schule an der Europäischen Schule München (ursprünglich für Diplomatenkinder entwickelt) sicher. Ganztagsschulen bedeuteten mehr Flexibilität, die Schule müsste schülerorientierter sein, individuelle Lern- und Entwicklungsförderung sei das A und O.

Bildungsministerin Elisabeth Gehrer wich lieber aus. Immerhin bei der Qualitätssicherung war sie sich mit SP-Chef Gusenbauer einig. Auch für sie ist dies der Knackpunkt. Man müsse dabei aber modernen Entwicklungen Rechnung tragen. Wichtig sei, dass in den Schulen auch "Wertegrundlagen" und Soft Skills stärker unterrichtet werden. Auf die Ganztagsschule ging sie nicht ein. Sie verwies lediglich darauf, dass gesetzliche Änderungen bei Schulfragen meist eine Zwei-drittelmehrheit voraussetzen würden. Wobei Gusenbauer der Zukunftskommission positiv gegenüber steht. Er sei bereit, deren Ergebnisse "mitzutragen".

In der Frage der Zentralmatura spielte Gehrer den Ball weiter an die neu eingerichtete Zukunftskommission (siehe Wissen), die genau derartigen Fragen nachgehen soll.

"Ohne Tabus", wie sich gleich Kommissionsvorsitzender Günter Haider beeilte, zu versichern. Der Salzburger Erziehungswissenschafter skizzierte auch kurz, welche Punkte in Angriff genommen werden müssten: So gehöre darüber nachgedacht, "ob die 50-Minuten-Einheiten noch die richtige Unterrichtsform sind". "Stakkato-Unterricht" nannte er es. Vorstellbar wäre ein stärker fächerübergreifender Unterricht für die Zehn-bis 14-Jährigen. Bis Herbst soll ein fertiges Konzept vorliegen. Schon jetzt gebe Österreich relativ viel Geld für die Schulen aus, so Haider, es werde nur nicht immer "ausreichend ergebniswirksam".

Ein Satz, den IV-Generalsekretär Lorenz Fritz, dankbar aufgriff. Man gebe schon derzeit eine "erklecklich hohe Summe aus", sagte er. Während in Finnland, das ausgezeichnet bei der Pisa-Wissens-Studie abschloss, nur 4600 Euro pro Kind und Jahr für die Primärstufe aufgewendet wird, seien es in Österreich 6100. Fritz warnte davor, dass mehr Geld nicht gleich auch bessere Qualität bedeutet. Fritz: "Höhere Mittel zu geben, ohne begleitende Reform, ist eine gefährliche Drohung."

Etwas moderater formulierte es Katharina Cortolezis-Schlager, Uni-Rätin und Strategieberaterin für öffentliche Einrichtungen und private Unternehmen. Mehr Geld bringe nicht automatisch mehr Qualität. Schulautonomie sei keine "Mangelverwaltung", es gehe vielmehr um "Ressourcenflexibilität".

Cortolezis-Schlager ging auch auf die Motivation des Lehrpersonals ein: Lehrer sollten sich direkt an der Schule bewerben können, und es müsse mehr Karrieremöglichkeiten geben. Bei der Arbeitszeit sollte es zu einen "Umbruch" kommen: Eine "Einstimmung" vor Schulbeginn wie eine "Rückbesinnung" nach Schulende. Die Strategieberaterin hatte auch einen Tipp für den Umgang mit Unmotivierten parat: "Wenn sich ein Lehrer nicht mehr geeignet fühlt, sollte man ihn zum Berufswechsel ermuntern."

Dass es an Geld mangle, war sich hingegen die anwesende Lehrerschaft sicher. In den Oberstufen fehle es beispielsweise an Ressourcen, um Soft Skills zu lehren, so ein AHS-Lehrer aus dem Publikum. Bleibe diese Frage ausgeklammert, verkomme der "Aufbruch der Schulen zur leeren Phrase". Immerhin sei dies vielleicht der letzte Ort, an dem noch soziale Kompetenzen erarbeitet werden könnten. Die Stundenkürzungen seien falsch, hieß es in Richtung Gehrer. Was bei der stark vertretenen Kollegenschaft dankbaren Applaus auslöste. Eine BHS-Lehrerin warf ein, dass die Umsetzung eines modularen Kurssystems aufgrund der Budgetmittel gar nicht möglich sei. Die Ministerin blieb ungerührt und verteidigte einmal mehr die von ihr geplante Stundenreduktion als sinnvolle Maßnahme.

Ganz andere Probleme des österreichischen Schulwesens wurden von einem anderen Zuhörer vorgebracht. Martin Spielauer vom Institut für Familienforschung mahnte größere Anstrengungen ein, um mehr Kindern Chancen auf höhere Bildung zu ermöglichen. Er verwies auf eine Studie seines Instituts, wonach nur sieben Prozent der Buben und neun Prozent der Mädchen von Eltern der untersten Bildungsschicht auf dem Land zumindest eine AHS-Unterstufe erfolgreich abschließen. Bei in Städten lebenden Kindern von Akademikern belaufe sich diese Zahl auf satte 86 (Mädchen) und 82 Prozent (Buben).

Mehr Lesefähigkeit

Gehrers Antwort darauf: Die Pisa-Wissens-Studie habe gezeigt, dass die Kernkompetenz das Lesen sei. Mit dem Bildungsprogramm "Lesefit" versuche man nun, dies gezielt zu stärken. Grundsätzlicher legte es SP-Chef Gusenbauer an. "Wir müssen erreichen, dass 100 Prozent der Drei- bis Vierjährigen einen Kindergartenplatz bekommen", forderte er ein. Nur so könnte man auch die sprachlichen Fähigkeiten von Zuwandererkindern fördern. Und dann nahm er die Kurve, um erneut bei der Ganztagsschule zu landen: Was Kinder in der zweiten Tageshälfte treiben, sei oft auch vom Bildungshintergrund der Eltern abhängig: "Das wäre die Chance, Herkunftsdefizite auszugleichen." (Peter Mayr/DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2003)