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Grenzenlose Freiheit versprach Interrail vor allem Jugendlichen vor 40 Jahren.

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Inzwischen sind auch Erwachsene und Senioren per Interrail unterwegs.

Der Zufall mit Jacques
1993, Linz-Zürich-Avignon-Biarritz-Paris
Margarete Affenzeller, Redakteurin des Kulturressorts

Zürich, Biarritz, Paris - drunter haben wir es nicht gemacht. Obwohl, nichts Genaues weiß man nicht ohne Internet. Wir sind ab Linz westwärts in diesen sparsamen Traum hineingezischt. Aus purer Dummheit und Selbstverleugnung mit einem Zelt auf dem Rücken.

Alles musste in diesen riesigen Rucksack hinein, und natürlich hat man in voller Verschnürung und samt allen aufgepackten Wasserflaschen und angebunden baumelnden Schuhen dann auch ausgesehen wie ein Esel. Was soll's. Die Waterfront von Zürich war es wert. Leider lag Entenscheiße zwischen unserem Zelteingang und dem Rest der Welt.

In Biarritz kamen wir an nach durchwachten Nächten in Avignon, wo wir "Jacques" kennengelernt hatten, dessen Freund "Bruno" eine Bar in Biarritz besaß. So ein Zufall. Bei ihm haben wir Campari getrunken, auch um allmählich fassen zu können, dass hier das Wasser des Atlantischen Ozeans bis an die Haustür des Kasinos reicht.

Jacques fand das auch echt ungewöhnlich. Die Zugfahrt nach Paris haben wir dann unter unseren schon welken Sonnenhüten verschlafen. Bei welchem Gare wir aussteigen sollten, war uns, glaube ich, nicht ganz klar. Aber das Gute am Interrail ist ja, dass man praktisch nichts falsch machen kann. Man döst, wo und wann man kann. Das hat einmal mehr, einmal weniger Stil. Meist aber Letzteres.


Pinnwand einer Zugreise
1989, Madrid-Lissabon-Monaco-Florenz
Michael Hausenblas, Redakteur des Rondo

Ich sah bei der abendlichen Abreise, wie die Sonne im Bodensee baden ging, bekam in Mailand aufgrund meines Beinkleides den Zugang zum Dom verwehrt, überquerte den Ebro am frühen Morgen, hörte The Smiths aus einem eiernden Walkman, fuhr mit einem R4 ohne Windschutzscheibe durch Lissabon, trug ein sandfarbenes Poloshirt aus Frottee, beobachtete die nassgrauen Wolken über dem Louvre, wurde während der Rasur auf der Bahnhofstoilette von Monte Carlo verscheucht, hatte weder die Garderobe noch die Marie fürs Kasino, albträumte in Nizza von Essiggurken, trank Bordeaux aus der Flasche, zahlte mit Francs, Lire, Peseten und Escudos, hielt in tiefer Nacht Ameisen für Fruchtfleisch.

Hatte noch immer keine Wohnung fürs Wintersemester, orderte nahe Madrid Kamillentee für den fiebernden Weggefährten, bekam aber eine Schachtel Camel, mied in einem Zug voller nordafrikanischer Arbeiter das Abteil, in dem Krummsäbel getragen wurden, hinterließ eine Badewanne, die aussah, als hätte Jack Palance nach einem Viehtrieb darin gelegen, wurde in Florenz von Conny versetzt, bekam von einem Belgier ungefragt eine Flasche Bier mit den Zähnen geöffnet, las Hemingways Fiesta, besuchte also eine Corrida, wurde von Eseln geweckt und lächelte, als mein Gefährte zum gefühlten 100. Mal fragte, "Was gibt es Schöneres in diesem Moment?"


Gesegneter Schlaf
1989, Nizza-Barcelona-Lissabon
Tanja Paar, Reiseredakteurin Rondo und Album

Die Aufregung konnte das Vergnügen nicht mindern - aber den Schlaf. Wie oft waren wir gewarnt worden, zwei Mädchen aus der Provinz: das Geld nur am Körper tragen, den Rucksack schön festhalten, am besten drauflegen und das Abteil immer abschließen! Uns war eingebläut worden, dass gleich hinter den Karawanken das wilde Kurdistan beginnt und wir jederzeit, vor allem aber nachts, mit einem Überfall zu rechnen hätten. Warum müssen auch zwei 18-Jährige allein nach Portugal aufbrechen? Zu spät! Auf der Höhe Venedigs war uns klar, dass das Abenteuer begonnen hatte. Geschlafen hatten wir noch nichts, sei's drum.

Nizza, Avignon auch auf der Brücke, die Erinnerungen sind wegen des Schlafmangels brüchig. Zumindest eine von uns musste immer Wache halten. Madrid im August, ein fiebriger Traum aus endlosen Rolltreppen, bis in Barcelona endlich der Körper seinen Tribut forderte: Die Sagrada Familia, die wollten wir unbedingt sehen, schleppten uns mit den unförmigen Pinkeln am Rücken hin. Im Park vor dem berühmten Bauwerk auf einer Bank, da sind wir eingeschlafen, beide. Und schliefen den Schlaf der Gerechten. Damit war der Bann gebrochen. Aus war's mit Wacheschieben. Für die restlichen Abenteuer zwischen Madrid und Lissabon waren wir bestens gewappnet, weil immer gut ausgeruht. Beklaut wurden wir nie.

 

Eine niederländische Nacht
1973, Paris-Amsterdam-Utrecht-Amsterdam
Christoph Winder, Ressortleiter Album

1973 war ich erstmals mit Interrail auf Achse, gemeinsam mit Ditti, Ekki, Joe, und Klocky; im Jahr darauf, gleich nach der Maturareise, das zweite Mal, mit Feli und Uli. 1973 führte uns die erste Etappe nach Frankreich, unser gelobtes Land. Frankreich war teuer, Paris sauteuer, unfassbare vier Schilling für einen lausigen Franc. Im Bistro lernten wir, dass ein Pastis im Sitzen mehr kostet als ein Pastis an der Bar, aber bald konnten wir uns auch keinen Pastis im Stehen mehr leisten.

Von Dauerrauschen der Stadtautobahnen eingehüllt, campten wir bei Sonnenuntergang in einer stoppeligen Wiese in Melun, aßen klischeegemäß Baguette und Camembert und tranken wohlfeilen Rotwein, der uns im Vergleich zum Glykolgeschlader in den heimischen Wirtshäusern besser schmeckte als Mouton Rothschild. Am nächsten Reiseziel, in Amsterdam, wo sonst, waren wir so flach, dass wir uns selbst die Jugendherberge kaum mehr leisten konnten.

Wir schliefen etappenweise, im Zug zwischen Amsterdam und Utrecht hin- und herfahrend: erst eine Stunde lang zum somnambulen Geratter der Waggons durch die blauschwarze niederländische Nacht dösen, dann von einem Schaffner an der Endstation geweckt werden, Zugwechsel in der surrealen Neonbeleuchtung einer Bahnstation, retour nach Amsterdam, retour nach Utrecht, retour nach Amsterdam ...

 

Fürs Leben lernen
1985, Spielfeld-Skopje-Griechenland
Karl Fluch, Redakteur des Kulturressorts

Ganz Europa in der Tasche lautete die Interrail-Werbung in den 1980ern. Mit dem obligatorischen Mathe-Nachzipf am Horizont ging es zu Beginn der Sommerferien in den Süden, zur Wiege der Demokratie, Richtung billigen Rauschs. Das hieß 36 fahrplanmäßige Stunden nach Athen, 40 sollten es werden.

Am Grenzübergang Spielfeld war die Wegzehrung aus Göss aufgebraucht, ab da galt es, fremde Kulturen und deren Getränke kennenzulernen. Den diesbezüglichen Höhepunkt markierte ein Aufenthalt am Bahnhof von Skopje. Wider die Ankündigung, jugoslawisches Bier könne man auch warm genießen, empfahl sich dieses durch die Nasenlöcher des mitreisenden Freundes wieder ans Tageslicht. Nicht für die Schule, für das Leben lernt man.

Für Zwangsgeselligkeit sorgte die Enge der Abteile der kurz vorm Ausrangieren stehenden ÖBB-Wagons, über Behördenwillkür könnte ein zuckerkranker Wiener Auskunft geben, für den der Grenzübergang von Jugoslawien nach Griechenland nach dem Spritzenfund in seinem Gepäck ein unvergessliches Erlebnis wurde. Der Zustand der Toiletten im Zug ließ an Eigenurin-Doping oder das offene Fenster als Auslass denken, der Geruch im Abteil an ein Testschwitzertreffen im Labor von 8x4.

Kurz, es war sehr schön, mit seinesgleichen auf Welterkundung zu sein.


Die Klimazone wechseln
2001, Rom-Bretagne-Amsterdam
Gudrun Springer, Redakteurin des Chronikressorts

Rom war schon heiß gewesen. Und die Amalfiküste und dieser Ort südlich von Neapel, dessen Namen ich irgendwann in diesen elf Jahren vergessen habe. Aber Sizilien? Neben der Bahnstrecke loderten die Buschfeuer, als wir in der Mittagshitze Taorminas mit unseren Riesenrucksäcken und dem Zehn-Kilo-Zelt aus einem ewig verspäteten Zug stiegen. Egal. Wir waren auf Interrail, und das hieß ja wohl, dass wir was aushielten. Wir sprangen ins türkise Meer und erkundeten die Stadt.

Dann kam die Nacht. Und unser Iglu erwies sich als exzellenter Wärmespeicher. Schlaflos lagen wir da. Schlaflos wie die Insekten, die uns über Beine und Arme krabbelten, weil wir in der Not das Fliegengitter geöffnet hatten. Wir sehnten uns nach Regen und Wind.

Ein paar Stunden und durchschwitzte Meter später saßen wir wieder im Zug. Vorbei an den Buschfeuern ging es zügig Richtung Bretagne. Ein ganzes Abteil gehörte nur uns, und wir holten massig Schlaf nach. Ganz anders als im vollgestopften Zug Richtung Süden, wo ich Knie an Knie mit einem Italiener gesessen war, der Mozzarella wie Semmeln gemampft hatte und dessen Sitznachbar uns ein Zimmer in seinem Privathaus hatte andrehen wollen. In Lamballe in der Bretagne stiegen wir aus. Der Ort begrüßte uns mit Regen und Wind. Drei Tage lang. Danach half nur noch die Fahrt nach Amsterdam.

 

Freuen aufs Morgengrauen
1992, Amsterdam-Prag-Athen
Gerald John, Redakteur des Innenpolitikressorts

Ein mütterlicher Griff mit spitzen Fingern, und ab in den Müll: Dieses Schicksal widerfuhr meinen Lieblingsjeans nach vier Wochen auf Schienen. Strategisch ausgeklügelt, war es nach Prag und Amsterdam gegangen, um billiges Bier und liberale Suchtmittelgesetze zu nützen, dann nach Griechenland, dessen Schlendrian noch als gemütlich statt unverschämt galt. Getan wurde alles, um das Klischee des versifften, aber kühnen Trampers zu erfüllen - mit der Rückversicherung, dass das elterlich aufgebesserte Urlaubsgeld zur Not auch für eine Jugendherberge reichte.

Nicht ganz nach Drehbuch stellten sich allerdings die Reiseromanzen ein. Auch die drei Mädels in dem Florenzer Beserlpark kniffen in letzter Sekunde vor der gemeinsamen Nacht - mit dem Hinweis, dass sich in der Stadt doch dieser Pärchenmörder herumtreibe: "They call him the Monster of Florence."Es blieb nicht die einzige Nacht, in der man sich auf das Morgengrauen freute. Vor Bahnhöfen wachte man mit Straßenköteratem im Gesicht auf, auf Fährendecks mit vom Wind verwehten Zigarettenstummeln. Den Zug durchs international geächtete Serbien teilten wir mit Hendlkäfigen, Großfamilien, deren Kinder in die Abteile pinkelten, und einem korrupten Schaffner, der uns einen Sack Dinar abknöpfte und die Grenzen des Interrailtickets erklärte: "You make Embargo, I make Embargo!"


Interrail ist Rock 'n' Roll
2006, Pont d'Arc-Arcachon-Paris
Julia Grillmayr, Ressortleiterin SchülerSTANDARD

Der zerfledderte grüne Plastikumschlag wird aufgehoben. So weiß man hinterher, wo man war. Wer plant schon Interrail? Logbuchartig wird die Route in das Büchlein geschmiert. Erst im Zug, denn man ist erst sicher, wohin es geht, wenn der losfährt. Interrail ist eben Rock 'n' Roll. So wild war's bei mir dann gar nicht. Bier und Männer mit wallendem, langem Haar waren zwar dabei. Aber im Singular. Mein Freund und ich setzten auf die bewährte Formel: zu zweit mit Zelt in den Zug. Über Italien fuhr er uns nach Frankreich, wo sich gerade der Train à grande vitesse durchsetzte.

Eilig hatten wir es nicht, und es ist weniger Rock 'n' Roll, für den Extraspeed aufzuzahlen. Daher wurde der TGV unser erklärter Feind, und das gelbe Ungetüm zu vermeiden unser liebster Sport. Immerhin tuckerten uns die Regionalzüge bis ins felsige Tal der Ardèche. Ein durchgeknallter Einheimischer fuhr uns mit dem Kleinbus herum, auf wunderschönen, engen Straßen nahe dem steilen Abgrund. Wir tranken Rosé an der Steinbrücke Pont dArc, wo Werner Herzog später seiner "Cave of forgotten dreams" nachspürte. Mit TGV-Schummlern fuhren wir hinauf zur riesigen Dühne in Arcachon. Vor dem Atlantik die Wüste. Stellenweise so steil, dass man meterweit ins Tiefe springt, bevor man wieder im Sand landet. Auf dem Rückweg über die Schweiz besuchten wir Paris, la belle capitale. (Rondo, DER STANDARD, 9.3.2012)