Die jüngste Runde eines Schlagabtausches zwischen Israel und radikalen Palästinensern im Gazastreifen kann als deprimierendes Déjà-vu empfunden werden: Die beiden Parteien sind in Gewalt und Gegengewalt gefangen. Der zweite Blick ergibt jedoch ein komplexeres Bild: Fast verschämt, weil damit alte Kategorien hinterfragt werden, ist medial von der "Zurückhaltung der Hamas" in diesem Konflikt die Rede. Sie ist ein Resultat einer längeren Entwicklung, in der sich der Islamische Jihad und die in den PRC (Popular Resistance Committees) versammelten Ultraradikalen - deren Anführer Zuhair al-Qaisi Israel am Freitag ermordete - immer mehr von der Hamas entfernen. Und umgekehrt.

Im lange schwelenden Konkurrenzkampf zwischen allen Gruppen im Gazastreifen gab es bisher gleichzeitig immer einen Konsens nach außen, gegen Israel. Natürlich existiert dieser auch heute noch: Gruppen wie der Islamische Jihad glauben von ihrer Leadership in Sachen Aggression ge gen Israel zu profitieren, während sich die Hamas als politische Kraft darstellen kann, die etwa dafür zuständig ist, palästinensische Häftlinge aus israelischer Gefangenschaft heimzubringen. Das ist eine Rollenverteilung, von der beide Seiten profitieren.

Aber bereits im vorigen Sommer, als die PRC von Ägypten aus Terrorakte in Israel verübten, zeigten sich deutliche Risse. Vor allem hatte die Hamas damals keinerlei Interesse daran, dass die kleinen aggressiven Splittergruppen die wiedergewonnenen guten Beziehungen zwischen Gazastreifen und Ägypten aufs Spiel setzen. Da wurde auch das Zauberlehrling-Szenario offenbar: Für die Hamas sind all diese Gruppen ein praktisches Druckmittel nach außen, eine effektive Kontrolle hat sie jedoch nicht.

Gleichzeitig hat die Hamas an politischer Statur in der Region gewonnen. Eine Folge des Arabischen Frühlings - die vor einem Jahr kaum jemand für möglich gehalten hätte - ist eine radikale Veränderung der regionalen politischen Einbettung der Hamas: und zwar zu ihren Gunsten. In Ägypten ist die Hamas-Mutterorganisation, die Muslimbruderschaft, heute nach Wahlen stärkste politische Kraft. Plötzlich denken die klügeren Hamas-Strategen nicht mehr gegen ägyptische, sondern mit ägyptischen Interessen. Vor allem jedoch ist heute ganz einfach eine früher verschlossene Tür offen, was im jüngsten Konflikt der Hamas erlaubt hat, Ägypten in eine politische Initiative zugunsten einer Waffenruhe zwischen Israel und Gaza einzubinden - die diesmal zumindest am ersten Tag besser hält als andere zuvor.

Auch der Paradigmenwechsel innerhalb der Hamas, was Syrien - und damit auch den Iran - betrifft, spielt mit. Sichere Prognosen, worauf das hinausläuft, gibt es nicht. Aber der Bruch zwischen dem bis vor kurzem in Damaskus ansässigen Hamas-Politbüro, vertreten durch Khaled Meshaal, und dem syrischen Regime ist schon einmal vollzogen.

Für die Hamas im Gazastreifen, die dadurch Gefahr läuft, vom iranischen Tropf abgeschnitten zu werden, ist die Sache nicht ganz so einfach. Der Richtungsstreit ist noch längst nicht entschieden. Aber auch um die Gaza-Hamas bemühen sich die arabischen Freunde am Golf, um ihr den Verlust zu versüßen. Und diese haben mit Israel teilweise gemeinsame strategische Ziele in der Region. Die Hamas steht noch nicht am Scheideweg, aber sie bewegt sich in diese Richtung. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, 14.3.2012)