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Da der ADHS-Prototyp männlich ist, werden insbesondere bei Buben deutlich mehr Fehldiagnosen gestellt.

Foto: REUTERS/Ali Jarekji

Bochum - Was Experten und die Öffentlichkeit schon lange vermuten, belegen Forscher der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Basel erstmals mit repräsentativen Daten: ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, wird zu häufig diagnostiziert. Psychotherapeuten und Psychiater für Kinder und Jugendliche fällen ihr Urteil offensichtlich eher anhand von Faustregeln statt sich eng an die gültigen Diagnosekriterien zu halten.

Insbesondere bei Buben werden deutlich mehr Fehldiagnosen gestellt. Dabei spielt es auch eine Rolle, ob der Mediziner männlich oder weiblich ist, teilt die Ruhr-Universität Bochum einer Aussendung mit. Die Studienergebnisse wurden im amerikanischen "Journal of Consulting and Clinical Psychology" sowie in der deutschen Fachzeitschrift "Psychotherapeut" veröffentlicht.

Mehr Fehldiagnosen bei Buben

Befragt haben die Forscher knapp 500 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater bundesweit. Sie erhielten je eine von vier unterschiedlichen Fallgeschichten, sollten eine Diagnose stellen und eine Therapie vorschlagen. In drei der vier Fälle lag anhand der geschilderten Symptome und Umstände kein ADHS vor, nur ein Fall war mit Hilfe der geltenden Leitlinien und Kriterien eindeutig als ADHS diagnostizierbar. Die vier verschiedenen Fallgeschichten wurden jeweils mit Buben und Mädchen vorgelegt, daher mussten die Befragten Mediziner insgesamt acht verschiedene Fälle beurteilen. Daraus ergab sich bei je zwei gleichen Fallgeschichten ein deutlicher Unterschied: Leon hat ADHS, Lea nicht.

Entscheidungen nach dem "Prototyp"

Viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater stützen sich bei der Diagnose eher auf Faustregeln und entscheiden nach prototypischen Symptomen. Der Prototyp ist männlich und zeigt Symptome von motorischer Unruhe, mangelnder Konzentration oder Impulsivität. Die Nennung dieser Symptome löst bei den Diagnostikern in Abhängigkeit vom Geschlecht unterschiedliche Diagnosen aus. Treten diese Symptome bei einem Jungen auf bekommt er die Diagnose ADHS, die identischen Symptome bei einem Mädchen führen jedoch zu keiner ADHS-Diagnose. Es spielt aber auch eine Rolle, wer die Diagnose stellt: Mann oder Frau. Männliche Therapeuten diagnostizierten signifikant häufiger ein ADHS als weibliche.

Inflationäre Diagnosen

Fast schon inflationär hieß es in den vergangenen Jahrzehnten bei den "Zappelphilipps" und schwierigen Kindern: Diagnose ADHS. Zwischen 1989 und 2001 stieg die Anzahl in der klinischen Praxis um 381 Prozent. Die Ausgaben für ADHS-Medikamente haben sich in einem vergleichbaren Zeitraum von 1993 bis 2003 verneunfacht - beispielsweise für das leistungssteigernde Methylphenidat.

Wenig Beachtung in der Forschung

Nimmt man nur diese Zahlen, so ergibt sich ein erhebliches Forschungsdefizit. "Dem großen öffentlichen Interesse steht eine bemerkenswert geringe Basis an empirischen Studien zu diesem Thema gegenüber", sagen die Studienautorinnen Silvia Schneider und Karin Bruchmüller. Gab es in den 1970er und 1980er Jahren einen gewissen Aufschwung in der Untersuchung von Häufigkeit und Ursachen von Fehldiagnosen, beachtet die Forschung dies seitdem kaum noch. Die aktuelle Studie zeigt: Um eine falsche Diagnose bei ADHS und eine vorschnelle Behandlung zu verhindern, ist es entscheidend, sich nicht auf seine Intuition zu verlassen, sondern sich klar an den festgelegten Kriterien zu orientieren. Das gelingt am besten mit Hilfe von standardisierten Befragungsinstrumenten, zum Beispiel diagnostischen Interviews. (red, derStandard.at, 30.3.2012)