Bestechender Blick: Tauben haben erstaunliche visuelle und kognitive Fähigkeiten. Das macht sie bei Verhaltensforschern beliebt.

Foto: STANDARD/Corn

Blick in die Testbox per Webcam: Hier werden den Versuchstauben Bilder vorgesetzt, um ihre Aufmerksamkeitsmuster zu ergründen.

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In Tauben haben sie die idealen Probanden gefunden, um Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier zu finden.

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Nur Josef hat es noch nicht kapiert: Die graublaue Taube ist das einzige von sechs Versuchstieren, das einfach nicht in die Testbox geht. "Drei können es schon, und die anderen zwei sind dabei, es zu lernen", sagt Nils Heise, Experimentalpsychologe an der Uni Wien. "Nur Josef geht nicht rein."

Wie aufgefädelt sitzen die Tauben auf einer Stange in einem der Käfige in einem Hof des Biozentrums in Wien und beäugen mit ihren Knopfaugen wachsam die Besucher. Die sechs Brieftauben, alle mit einem Namen und einem Chip ausgestattet, sind die ersten, die sich mit dem Hightech-Verschlag anfreunden sollen, den Nils Heise und seine Kollegen von der Forschungsgruppe von Ulrich Ansorge am Institut für Psychologische Grundlagenforschung adaptiert haben. Das überdimensionale Vogelhäuschen dient dazu, den elementaren Prinzipien der visuellen Wahrnehmung auf die Spur zu kommen.

Während der durchschnittliche Städter Tauben als lästige und nicht übermäßig intelligente Plage verunglimpft, schätzen Verhaltensforscher ihre visuellen und kognitiven Fähigkeiten. "Wenn man mit dem Fahrrad auf eine Taube zufährt, weicht sie erst im letzten Moment aus", gibt Ulrich Ansorge ein Beispiel. "Dabei weiß sie genau, dass notfalls der Mensch ausweichen würde, denn sie hat gelernt, dass er für sie keine Gefahr darstellt. Tauben sind hochintelligent - kein anderes Tier wäre derart abgebrüht." Im Biozentrum, wo das Department für Kognitionsbiologie rund um Ludwig Huber dutzende der gurrenden Vögel in verschiedenen Gehegen hält, können auch die Psychologen ihre Experimente durchführen. Üblicherweise werden die Tauben aus dem Käfig genommen und in eine dunkle Kiste gesteckt, wo ihnen Bilder vorgesetzt werden.

Stressfreie Tests

"In unsere Box können die Vögel gehen, wann immer sie wollen, ganz ohne Stress", erläutert Heise die Vorteile der neuen Konstruktion. "Über eine Webcam können die Tauben ständig beobachtet werden, auch per Internet." In der derzeitigen ersten Phase sollen die Probanden erst einmal lernen, die Testkammer zu betreten. Dazu müssen sie auf einer Stange landen, die durch eine Schleuse, in der ihr RFID-Chip gelesen wird, ins Innere der Box führt - wo eine Futterschüssel lockt.

Später werden hier Bilder auf einem Touchscreen projiziert, welche die Tauben durch Antippen mit dem Schnabel auswählen können. Wenn sie auf das Bild - etwa eine rote Scheibe - picken, bekommen sie ein Körnchen Futter aus einem automatischen Spender. Sie lernen so, ein bestimmtes Merkmal zu beachten. Im nächsten Schritt kommt eine Scheibe mit einem Farbkontrast (etwa Rot/Grau) dazu, und die Versuchstauben müssen sich entscheiden, wohin sie picken. So soll festgestellt werden, ob die Aufmerksamkeit der Vögel eher durch die gelernte Farbe oder den Farbkontrast angezogen wird.

Hinter dieser simplen Versuchsanordnung verbergen sich tiefschürfende Fragen: Wird Aufmerksamkeit reizgetrieben durch Farbkontraste angezogen oder doch eher durch die Absicht und die Erfahrung gesteuert - in diesem Fall also die zielgerichtete Suche nach einer gelernten Farbe, die mit Futter assoziiert wird? Und gibt es dabei Gesetzmäßigkeiten, die artenübergreifend sowohl für Menschen als auch für andere Lebewesen gelten?

"Wir suchen nicht nach Unterschieden, sondern nach universellen Prinzipien, die alle betreffen, Tiere wie auch Menschen, vom Baby bis zum Greis, unabhängig von Geschlecht und Kulturkreis", betont Ulrich Ansorge, Leiter des Projekts "Modellierung visueller Aufmerksamkeit", das seit März durch das Kognitionsforschungsprogramm des Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds WWTF gefördert wird.

An Tauben und auch an Affen soll also getestet werden, ob sie denselben Mechanismen wie Menschen folgen, um letztlich ein allgemeingültiges Modell der visuellen Aufmerksamkeit zu entwickeln. "Wir vermuten, dass auch Tauben eher absichtsgetrieben agieren, als sich von Reizen leiten zu lassen", formuliert Ansorge eine der Hypothesen. Dabei gilt es, die lange vertretene Salienz- oder Auffälligkeitstheorie zu überprüfen. Sie geht davon aus, dass starke Reize, also Kontraste wie Farb- und Helligkeitsunterschiede oder Ecken und Kanten, den Blick automatisch anziehen. "Diese Punkte werden tatsächlich häufiger und länger betrachtet, aber wir wissen nicht, ob es daran liegt, dass sie auch viel Information enthalten und Ziele und Erwartungen dahinter stehen, etwa wenn wir eine leuchtende Ampel anschauen.

"Der Salienztheorie widerspricht allerdings, dass unsere Aufmerksamkeit sehr selektiv ist, selbst wenn Kontraste noch so sehr ins Auge stechen: "Das geht so weit, dass man im Regal die Milch nicht findet, wenn sie eine rote und nicht wie üblich eine weiß-blaue Verpackung hat", sagt Nils Heise. Was hinter dem Blickverhalten steckt, wie und warum bestimmte Dinge die Aufmerksamkeit stärker anziehen als andere, untersuchen Ansorge und sein Team auch anhand von Filmen.

Orientierung in Filmszenen

Dazu werden Versuchspersonen mit Filmszenen konfrontiert und ihre Pupillenbewegungen mittels Eye-Tracker verfolgt, oft kombiniert mit EEG zur Messung der Hirnströme. "Die Theorie lautet: Die Aufmerksamkeit orientiert sich stark an neuer, interessanter Information, aber nur innerhalb einer Einstellung", sagt Ansorge, der gelernter Kameraassistent ist. "Nach einem Schnitt wird hingegen auf die wiederholten, bekannten Informationen zurückgegriffen, um sich zu orientieren."

Um kontrollierte Situationen zu schaffen, berechnen Mathematiker den sogenannten optischen Fluss repräsentativer Szenen, der letztlich ein abstraktes Muster wiederholter visueller Information darstellt. So können die Forscher sicher sein, dass das Blickverhalten nicht von den Inhalten abgelenkt wird. Nicht zuletzt könnten die Ergebnisse Aufschluss darüber geben, wie sich Aufmerksamkeitsmuster in Zeiten schneller Schnitte und allgegenwärtiger Displays und Videos verändern.

Wie viel dabei unbewusst wahrgenommen wird und welche Rolle unterschwellige Reize und zielgerichtete Absichten spielen - all das untersuchen die Kognitionspsychologen in den nächsten vier Jahren mit experimentellen Methoden. Insbesondere was die Tiere angeht, ist dabei auch Geduld angesagt - und warten, bis auch Josef bereit für die Testbox ist.
 (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 11.4.2012)