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Tantawi auf einem Archivbild vom September 2011.

Foto: Amr Nabil, File/AP/dapd

Nach einer Schrecksekunde, die fast zwei Tage gedauert hat, setzt nun in Ägypten die Diskussion darüber ein, was Feldmarschall Hussein Tantawi gemeint haben könnte: Am Sonntag sagte der Chef der Militärjunta, die Ägypten seit dem Sturz von Hosni Mubarak im Februar 2011 regiert, dass Ägypten eine neue Verfassung haben sollte, bevor ein neuer Präsident das Amt antritt. Aber was heißt das konkret für den Transitionsfahrplan?

Am 23. und 24. Mai sollte die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfinden, mit Stichwahlen am 16. und 17. Juni. An der Verfassungsfront sieht die Lage jedoch so aus: Eine vom islamistisch dominierten Parlament ernannte, islamistisch dominierte Verfassungsgebende Versammlung (VgV) wurde vor ein paar Tagen von einem Verwaltungsgericht suspendiert. Bis die Sache an den Verfassungsgerichtshof geht und dieser über das Schicksal des Gremiums entscheidet, beziehungsweise bis eine andere VgV bestimmt ist, kann das dauern. Die VgV muss jedenfalls eine Verfassung schreiben, und über die muss ein Referendum stattfinden: Wie soll das alles bis zu den Wahlen oder auch nur bis Ende Juni zu schaffen sein? Laut einer Verfassungserklärung von 2011 hätte die VgV ja auch sechs Monate Zeit, einen neuen Verfassungstext zu produzieren.

Was hat also Tantawi gemeint? Die Spekulationen bewegen sich zwischen zwei Extremen, die demokratiepolitisch gleich düster sind:

1. Die Militärs werden dafür sorgen, dass im Schnellverfahren ein ihnen genehmes Gremium eine von ihnen aus der Schublade geholte und ihnen genehme Verfassung - die dann auch die Sonderrolle der Armee festschreiben würde - fertig stellt, die vom braven Volk abgesegnet wird.

2. Die Militärs wollen die Präsidentenwahlen verschieben, das heißt, sie werden auch nicht, wie tausendmal versprochen, Ende Juni die Macht wieder abgeben.

Das Gefährlichste wäre wohl, wenn die Junta die erste Runde zulässt und dann die zweite absagt: Das käme einem (neuen) Militärputsch gleich, und das Land würde ziemlich sicher explodieren. Es kann auch durchaus sein, dass der Militärrat selbst etwas ratlos ist, angesichts des politischen Chaos, und sich Tantawi mit der sphinxischen Ansage die Optionen offen hält.

Keine Job Description

Es ist ja in der Tat etwas absurd, dass Ende Juni ein Präsident in ein Amt eingeführt werden soll, von dem zu diesem Zeitpunkt niemand weiß, wie es laut der neuen Verfassung eigentlich aussehen wird. Eines ist dabei natürlich sicher: Die Ägypter wollen keinen Präsidenten mehr, der mit so großer Macht ausgestattet ist wie Mubarak und seine Vorgänger. Und das Parlament muss aufgewertet werden. Da dieses islamistisch dominiert ist, sehen viele Ägypter eine mögliche Packelei zwischen den Islamisten (zumindest den Muslimbrüdern) und der Armee. Sie haben ja auch im vergangenen Jahr meistens an einem Strang gezogen. Aber in den vergangenen Wochen und Monaten gab es ernsthafte Spannungen, weil die Muslimbrüder die von den Militärs ernannte Regierung heimschicken und selbst eine bilden wollten, was die Junta ihnen jedoch bisher verwehrt.

Das derzeitige Chaos ist auch das Produkt mangelnder klarer Entscheidungen im vergangenen Jahr: Die Ägypter und Ägypterinnen wollten einen kurzen Transitionsprozess, den ihnen das vielkritisierte Militär zur Besänftigung versprach. Gleichzeitig warnten Experten - unter ihnen der Friedensnobelpreisträger und Jurist Mohamed ElBaradei - vor zu schnellen Wahlen, die nur die alten und etablierten Kräfte, das heißt die Mubarakisten und Islamisten, begünstigen würden. ElBaradei und andere vertraten die Ansicht, dass das Wichtigste eine neue Verfassung sei - und dass dieser Prozess seine Zeit brauche.

Abschreckendes Beispiel Irak

Exkurs: Das abschreckendste Beispiel einer zu schnell geschriebenen Verfassung der letzten Jahre ist die irakische aus dem Jahr 2005: Sie hat zum Abrutschen des Landes in den Bürgerkrieg beigetragen, weil sie durch ihren radikalen Föderalismus den sunnitischen Teil der Gesellschaft dem neuen Staat total entfremdete. Sie wurde mehr oder weniger in der amerikanischen Botschaft geschrieben: Damals war bei sich ständig verschlechternder Sicherheitslage der politische Zeitplan das einzige im Irak, worauf US-Präsident George W. Bush als Erfolg verweisen konnte, deshalb wurde er ohne Rücksicht auf Verluste durchgepeitscht. Obwohl die Iraker eben viel länger gebraucht hätten, untereinander auszuhandeln, wie dieser neue Staat aussehen sollte.

Zurück nach Ägypten: Was unter anderem bestürzt macht ist, dass manche Säkulare mit der zwielichtigen Rolle der Armee leben könnten - wenn sie nur die Islamisten im Zaum hält. Die Revolution würde dann aber zu so etwas wie einer „Korrekturbewegung" verkommen: Die korruptesten Figuren der Mubarak-Zeit wären entfernt, in der Substanz würde das Regime gleich bleiben. So ein Szenario ist aber schwer vorstellbar: Mit 70 Prozent islamistischen Wählern - das war das Resultat der Parlamentswahlen - ist der Wille der Volkes einfach zu klar. Und damit diese Wähler wieder weniger werden, braucht Ägypten eine Demokratie. (Gudrun Harrer, derStandard.at, 17.04.2012)