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Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche weisen eine schlechtere Vernetzung in der rechten Hirnhälfte auf.

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Der Bedarf an Hilfe für Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche ist groß: Bis zu 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden daran. Damit verbunden sind ein erhöhtes Risiko für Verhaltensauffälligkeiten und emotionale Probleme. Rund um diese Problematik ist ein eigener florierender Wirtschaftszweig entstanden. Eine unüberschaubare Zahl an "Lese-Rechtschreib-Trainern" oft zweifelhafter Qualifikation und eine Vielfalt an Methoden versprechen Besserung - und bewirken außer beträchtlichen Kosten meist keine nachhaltigen Erfolge.

Positive Veränderungen

Eine von Psychologen der Grazer Karl-Franzens-Universität gemeinsam mit Neurologen der Medizinischen Universität Graz durchgeführte Studie unter der Leitung von Andreas Fink liefert nun erste Hinweise, dass richtiges Training nicht nur die Rechtschreibfähigkeit und das Leseverständnis verbessert, sondern auch zu positiven Veränderungen im Gehirn führt: Die Ursachen ei- ner Lese-Rechtschreib-Schwäche werden in der Struktur und Funktionsweise sprachrelevanter Regionen im Gehirn vermutet.

Im Rahmen des Kooperationsprojekts wurden die Auswirkungen des am Grazer Lese-Rechtschreib-Instituts entwickelten Trainingsprogramms "Morpheus" auf die Gehirnaktivität und -struktur rechtschreibschwacher Kinder untersucht. Die Rechtschreibung wird dabei mithilfe eines " morphematischen" Grundwortschatzübungsprogramms trainiert: Ein Morphem ist die kleinste Bedeutung tragende Einheit einer Sprache, und mit diesem Training wird das Wortbildungsmaterial - also Vorsilbe, Stamm und Nachsilbe - systematisch erarbeitet. Die Kinder erlernen nach einem festgelegten Stufenplan einzelne Wortstämme, von denen dann die Einzelwörter abgeleitet werden.

"Auf diese Weise können auch schwache Rechtschreiber rasch eine große Menge an Wörtern richtig schreiben", erläutert Reinhard Kargl vom Grazer Lese-Rechtschreib-Institut, der mit seinem Kollegen Christian Purgstaller das Training entwickelt hat. So kommt etwa der Wortstamm " fahr" in über 700 Wörtern der deutschen Sprache vor.

Überraschender Befund

Kann man den Stamm richtig schreiben, erschließt sich also die Rechtschreibung sehr vieler Wörter, wenn man auch die überschaubare Liste der Vor- und Nachsilben trainiert. Um die Effekte dieser Methode auf das Gehirn zu überprüfen, hat die Neuropsychologin Daniela Gebauer mittels funktioneller sowie diffusionsgewichteter Magnetresonanztomografie die Gehirnfunktion und -vernetzung von 45 ausgewählten Kindern zwischen neun und fünfzehn Jahren untersucht. "Wir hatten eine rechtschreibschwache Gruppe, die fünf Wochen mit 'Morpheus' trainiert wurde, eine rechtschreibschwache Gruppe, die nicht trainiert wurde, und eine nicht rechtschreibschwache Kontrollgruppe", berichtet die Forscherin.

Vor dem Training zeigten die rechtschreibschwachen Kinder im Vergleich zur Kontrollgruppe eine schlechtere Vernetzung in der rechten Hirnhälfte, was auf eine weniger effiziente Kommunikation zwischen rechtsseitigen Hirnregionen schließen lässt. "Das ist ein überraschender Befund", sagt Gebauer, "da wir nur in der linken Hemisphäre, die für sprachliche Aktivitäten üblicherweise als viel relevanter erachtet wird, eine schlechtere Vernetzung erwarteten."

Überdies zeigte sich bei den schlechten Rechtschreibern eine stärkere Aktivierung frontal und in der rechten Hirnhälfte, was auf erhöhte Aufmerksamkeit hinweise. "Die Aktivierung in der rechten Hemisphäre erfolgte in jenen Regionen, die für die Umwandlung von Buchstaben zu Lauten wichtig sind", erläutert die Neuropsychologin. "Es ist also zu vermuten, dass sich rechtschreibschwache Kinder die Wörter innerlich vorsagen, wodurch sie auch häufig Rechtschreibfehler wie 'Lera' statt ' Lehrer' oder 'Neuichkeit' statt 'Neuigkeit' machen." Die rechte Hemisphäre wird von ihnen demnach zum Kompensieren herangezogen, "aber dieser Plan B ist nicht wirklich effizient".

Signifikant verbessert

Die nächste Überraschung erlebten die Forscher dann nach Ende des fünfwöchigen Trainings: Rechtschreibung und Leseverständnis hatten sich bei der Trainingsgruppe signifikant verbessert, ebenso die "Vernetzung" in der rechten Hirnhälfte. Überdies zeigte sich eine stärkere Aktivierung in der linken Hemisphäre - und zwar in den für semantisches Wissen und das Abrufen erlernter Strategien zuständigen Arealen. "Diese Aktivierung haben wir bei den zwei anderen Gruppen nicht gefunden. Das beweist einmal mehr, wie neuroplastisch unser Gehirn ist und dass wir vieles bis ins hohe Alter verändern können", sagt Gebauer. Der Effekt verringert sich, wenn das Training abgebrochen wird, aber auch einen Monat nach Beendigung der regelmäßigen Übungsspiele lag er deutlich über dem Ausgangsniveau.

Um das Lernen möglichst lustvoll zu gestalten, haben die "Morpheus" -Entwickler die Übungen in unterhaltsame Computerspiele verpackt. "Für die Kinder waren die Trainingseinheiten deshalb keine Lernstunde, sondern ein Spiel", berichtet Gebauer. Zurzeit wird an der Entwicklung eines Morpheus-Programms speziell für Kinder mit Migrationshintergrund gearbeitet, mittels dessen auch die Grammatik trainiert werden soll. (Doris Griesser, DER STANDARD, 18.4.2012)