Sabine Würth: "Das Angsterleben ist ganz wichtig."

Foto: Sabine Würth

Die Angst vor Verletzungen zu erkennen, Gefahren richtig einzuschätzen und die Kompetenz, damit umzugehen, können trainiert werden. Die Salzburger Sportpsychologien Sabine Würth hält die Beweislage der selbsterfüllenden Prophezeiung für dünn.

derStandard.at: Was halten Sie von der Hypothese: "Mit der Angst eines Sportlers wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass er sich tatsächlich wehtut"? 

Würth: Wenn wir den Faktor "Angst" im Sport untersuchen, müssen wir verschiedene Formen unterscheiden. Sie existiert zunächst einmal als "Persönlichkeitsmerkmal". Das heißt, es gibt Menschen, die grundsätzlich ängstlicher sind als andere. Es hat sich gezeigt, dass "Angst" auf dieser allgemeinen Ebene nur geringe Auswirkungen auf das Entstehen von Verletzungen hat.

derStandard.at: Die "Persönlichkeitsangst" hat also wenig Einfluss. Welche Ängste gibt es in diesem Kontext noch?

Würth: Eine wichtigere Komponente ist die "Wettkampfangst". Athleten, die fürchten, im Wettkampf zu versagen, neigen eher dazu, sich zu verletzen. Es ist jedoch anzumerken, dass die Beweislage auf diesem Gebiet noch relativ dünn ist. Bei der Sportverletzungsforschung aus psychologischer Sicht haben wir es mit sehr komplexen Zusammenhängen zu tun, von denen in empirischen Studien häufig nur Teilbereiche berücksichtigt werden können.

derStandard.at: Welche Auswirkungen hat nun die konkrete Angst vor Verletzungen?

Würth: Hier gibt es bislang zwei unterschiedliche Befunde: Erhöhte "Verletzungsangst" kann uns schützen, weil wir dann vorsichtiger sind. Das gilt besonders für Situationen, die ein explizites Risiko in sich tragen. Hier weiß ich: Jetzt wird es gefährlich, ich muss aufpassen, und ich werde mich in der Regel auch dementsprechend verhalten. Das trifft besonders dann zu, wenn wir mit schweren Verletzungen rechnen. Sogenannte Bagatellverletzungen, die maximal eine Sportpause von einer Woche erfordern, nehmen wir hingegen eher in Kauf.

derStandard.at: Viele sportliche Aktivitäten finden aber nicht in offensichtlichen Gefahrensituationen statt. 

Würth: Ja, die Situationen, in denen wir uns üblicherweise befinden, stellen kein explizit hohes Risiko dar. Wir fahren Rad, laufen, spielen Fußball oder Volleyball. In solchen Situationen ist die Verletzungsgefahr gar nicht so spürbar. Es liegt die Vermutung nahe, dass wir uns an diese Situationen gewöhnen. Denken Sie daran zurück, wie Sie das Fahrradfahren gelernt haben - das war sicher aufregend und mit der Angst verbunden zu stürzen. Irgendwann vergisst man das und gewöhnt sich an die Situation, was dazu führt, dass man sich sicher fühlt.

derStandard.at: Also das gegenteilige Gefühl von Angst?

Würth: Genau. Dieses Kompetenzerleben gibt uns Sicherheit und die Möglichkeit, befreit zu handeln. Gelegentlich neigt der Mensch in solchen Situationen dazu, die Konzentration zu verlieren. Verletzungen entstehen in diesem Zusammenhang vor allem dann, wenn wir ermüden oder sich die äußeren Einflüsse ändern.

derStandard.at: Ist es ratsam, Angst zu verdrängen oder zu unterdrücken?

Würth: Das Angsterleben ist ganz wichtig. Wenn sich beispielsweise ein Sportler in einer bestimmten Situation bereits einmal verletzt hat, wäre es absolut fatal, die Angst vor dieser Situation wegzutrainieren. Es gibt Ansätze, die versuchen, Verletzungsangst durch psychologische Trainings- und Interventionsmaßnahmen zu löschen.

Wenn jemand auf der Streif stürzt und ihm diese Verletzungsangst genommen wird, dann hat er keinen Schutz mehr. Es geht vielmehr darum, die Angst zu erkennen, einzuschätzen und richtig mit ihr umzugehen. Es hilft nichts, wenn ich oben am Berg stehe und feststelle: Ich habe Angst, aber nicht die Kompetenz, hinunterzufahren, und darüber hinaus keine alternative Lösung. Wir müssen uns auch eingestehen können, etwas nicht zu schaffen, gemäß dem Motto: "Lieber einmal feig als tot".

derStandard.at: Lassen sich hier geschlechterspezifische Unterschiede feststellen?

Würth: Einerseits gibt es die, andererseits auch nicht. Männer verletzen sich grundsätzlich häufiger als Frauen, was aber damit zu tun hat, dass sie auch öfter und mehr Sport betreiben. Männer verletzen sich auch anders als Frauen. Das hängt natürlich von den Sportarten ab. Wie amerikanische Studien gezeigt haben, zählen beispielsweise Rugby und American Football zu den verletzungsträchtigsten Sportarten.

Im Zusammenhang mit der Komponente "Angst" gibt es eher keine Unterschiede. Frauen geben in Befragungen zwar öfter an, dass sie häufiger und auf einem höheren Level Angst erleben, allerdings ist es Frauen auch eher "erlaubt", ihre Angst einzugestehen. Der tatsächliche Unterschied dürfte gar nicht so groß sein, aber Männer geben das subjektiv einfach seltener zu.

derStandard.at: Welche "sozialen Faktoren" fördern Sportverletzungen noch?

Würth: Die "exzessive Verausgabungsbereitschaft" spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich um abweichendes Verhalten, das zunächst vordergründig als positiv wahrgenommen wird. Zentral ist dabei die soziale Anerkennung, die daraus resultiert. Je mehr Anerkennung sich jemand wünscht oder auch erhält, desto eher läuft er Gefahr, dass sich dieses eigentlich positive Verhalten mit negativen Konsequenzen niederschlägt.

derStandard.at: Wie sind Sie auf dieses Thema, das Sie auch in Ihrer Habilitation untersuchen, gestoßen?

Würth: Als ich vor Jahren einmal die Ergebnisse und Kommentare zur deutschen Bundesliga in einer Zeitung studiert habe, stieß ich auf ein Zitat eines Trainers, dessen Mannschaft eher im unteren Tabellenteil angesiedelt war und gegen Bayern München relativ deutlich verloren hatte. Er meinte sinngemäß: "Wenn man spielerisch unterlegen ist, muss man schon einmal 'Blut im Schuh' oder ein 'dickes Knie' riskieren." Das heißt, diese Verausgabungsbereitschaft wird besonders in Mannschaftssportarten gefordert oder zumindest erwartet. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 23.4.2012)