Kurt Palm (li.), Wolfgang Müller-Funk, Emmy Werner (Mitte) und Susanne Heine diskutierten im Haus der Musik über Politik und Moral, STANDARD-Kolumnist Gerfried Sperl moderierte.

 

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Wien - Von Friedrich Nietzsche stammt der Satz: "Skepsis an der Moral ist das Entscheidende." Unausgesprochen schwebt er beim STANDARD-Montagsgespräch zum Thema "Wie viel Moral braucht die Politik" als Leitmotiv über der Debatte im Haus der Musik. Denn die Frage nach der Moral parieren die vier Gäste am Podium - Autor und Regisseur Kurt Palm, die frühere Direktorin des Volkstheaters Wien, Emmy Werner, Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk und die evangelische Theologin Susanne Heine - mit gewisser Skepsis.

Fehlende Moral bei den Mächtigen gab es auch in den vergangenen Jahrhunderten. Gerfried Sperl zitiert zur Einleitung den Moralphilosopen Adam Smith (1759): "Das Fassungsvermögen ihres Magens steht in keinem Verhältnis zur Größe ihrer Begierde". Das Montagsgespräch in voller Länge (Teil 2).

"Wie viel Moral verträgt die Politik?"

Das Schwierige an der Moral sei ja, dass so schwer etwas dagegen zu sagen sei, wenn etwa die ÖVP ihren Funktionären zur moralischen Selbstermächtigung einen Verhaltenskodex auferlegen möchte, sagt Heine: "Die Frage ist nur: Was es bewirkt. - In der Regel nichts."

Besser wäre vielleicht zu fragen: "Wie viel Moral verträgt die Politik?" Zumal Moraldiskurse meist Verschleierungsdiskurse seien, sagt die Theologin: "Damit wird verdeckt, dass es Interessen gibt." Einander widersprechende Interessen, für die die Politik irgendeinen Ausgleich finden muss. Das ist ihr Job. Wenn sie den nicht (mehr) leistet, also keine Entscheidungen trifft, dann brechen die Hochzeiten für die Moralisten an und die "Wolke des moralischen Diskurses" kann vor sich hinwabern - unter kräftiger Zuhilfenahme von Sündenböcken. "Das ist das Verlogene dieses Moraldiskurses."

Die vormalige Theaterprinzipalin Emmy Werner beantwortet die Frage "Wie viel Moral braucht die Politik?" mit einem kompakten: "Gar keine." Die Gesellschaft sollte sich vor allem eine leisten. Wenn aber "die Gesellschaft verrottet, dann ist die Politik der Spiegel", sagt Werner. Also: "Die Gesellschaft braucht eine andere Moral, dann hat auch die Politik eine andere." Wenn von prominenten Figuren moralisch fragwürdige Attitüden der Marke "Ich hab ja nix zu verschenken" als Zielgröße propagiert werden, "braucht die Politik gar nicht mehr unmoralisch sein", meint Werner.

Müller-Funk: "Moral wird nicht in der Politik produziert, sondern in der Gesellschaft"

Auch Kulturwissenschafter Müller-Funk koppelt die mit so viel Verve geforderte Moral an die Gesellschaft zurück: "Moral wird nicht in der Politik produziert, sondern in der Gesellschaft." Und da vor allem als rhetorische Übung vermittels moderner Medien. Bleibe die Frage, stecken wir heute, da wir umzingelt scheinen von Korruption allerorten, auch tatsächlich in einer korrupteren Gesellschaft als früher? Nicht zwangsläufig, meint er: "Unsere Moral hat sich vielleicht geändert, vielleicht hat sich aber auch unser Argwohn gesteigert. Vielleicht ist das Ausmaß der Korruption gar nicht gewachsen, aber die mediale Aufmerksamkeit." Nicht zu vergessen: Die vermeintliche Amoral ist beileibe nicht nur ein Symptom der Politik. Der Kulturbetrieb sei dafür ebenso eine treffliche Spielwiese, erinnert Müller-Funk: "Das Interessante: Nachdem der jeweilige Direktor zu Fall gekommen ist, interessiert sich niemand mehr dafür."

Ist Moral also eine Frage für Spontanauf- und -erregung und dann ein Fall fürs Kurzzeitgedächtnis? Müller-Funks Medizin: "Nicht zu viel Moral. Lieber punktuell moralisch sein als über Moral reden."

Palm: "Leute auf der Straße haben eine andere Moral als Politiker"

Als Fall von zu viel Moral könnte "Doppelmoral" gelten. Die sei ja auch gar nicht so selten, sagt Kurt Palm. Für ihn stellt sich die Frage: "Welche Moral braucht die Politik?" Schwierig, "weil die Leute auf der Straße eine andere Moral haben als Politiker wie Grasser".

Andere Moral, gut. Aber bessere oder mehr Moral? Nicht unbedingt. Woher also kommt dann der moralisierende Ton der Politik gegenüber? Weil sich die Politiker auch selbst "zu Ersatzpriestern gemacht haben", sagt Palm: "Eine ihrer Hauptbotschaften war ja: Auf uns ist Verlass. Der sagt die Wahrheit. Wir sind besser als andere, darum sollt ihr uns wählen. Von daher darf man schon moralische Ansprüche stellen an die Politik", findet Kurt Palm.

Heine: "Moraldiskurse verdecken, dass es einander widersprechende Interessen gibt"

Nicht nur an die, betont Heine und erinnert all die Moralapostel an etwas jenseits der grassierenden Moralisierung: Es gebe ja auch noch "die Urteilsfähigkeit und Verantwortung der Bürger". (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 25.4.2012)