Fehler ausleuchten: Schäden an Schienen können nun während der Fahrt von Kameras aufgenommen und danach automatisch ausgewertet werden. Allerdings ermöglicht erst die richtige Beleuchtung, Aufschluss über die Art der Schäden zu geben.

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"Die meisten Unglücksfälle entstehen durch muthwilliges Auflegen fester Körper auf die Schienen. Eine Revision der Bahn vor jeder Fahrt durch die in hinreichender Zahl angestellten Bahnwärter kann diese wegschaffen" , schrieb der Zivilingenieur A. W. Boyse in seinen Beiträgen zum practischen Eisenbahnbau im Jahr 1840. Was Boyse nicht wissen konnte: Schon 23 Jahre später sollte dieses Bedrohungsszenario in vielen Städten immer irrelevanter werden. Mit dem Bau der ersten Untergrundbahn in London entzog sich der urbane Schienenverkehr gewissermaßen der Mutwilligkeit von Saboteuren.

Der Beruf des Bahnwärters ist allerdings bis zum heutigen Tag nicht völlig obsolet geworden. Allein in Wien gehen noch rund zwei Dutzend Arbeiter tagtäglich die Gleisanlagen - ober- wie unterirdisch - ab, um sich ein Gesamtbild vom Zustand der Schienen zu verschaffen. Eine akute Sicherheitsgefährdung steht dabei nicht mehr im Fokus: Bei rund 66 Millionen jährlich gefahrenen Kilometern der Wiener Linien liegt die Wahrscheinlichkeit, während einer Fahrt mit den Öffis zu verunglücken, mittlerweile bei eins zu einer Milliarde. Die Revision der Gleisanlagen ausschließlich auf Basis von Begehungen zu planen wird für Verkehrsbetriebe dennoch zunehmend schwierig: Um rechtzeitig zu wissen, welche Sanierungsarbeiten anstehen, benötigen sie bessere und vor allem mehrere Daten über laufende Veränderungen an den Schienen.

Scharf sehende Inspektoren

Ein vom Austrian Institute of Technology (AIT) bis zum August 2011 durchgeführtes und von der Forschungsförderungsgesellschaft FFG unterstütztes Projekt soll diese Daten nun liefern. Mit dem System fractInspect, das bereits seit einem halben Jahr bei den Wiener Linien im Einsatz ist, werden die Schienenoberflächen zwar nach wie vor optisch inspiziert, allerdings geschieht dies vollständig automatisiert mit einer Kamera. Installiert auf einem Messfahrzeug wird diese hochauflösende Optik - sie erfasst 0,19 Quadratmillimeter pro Pixel - zwei- bis viermal pro Jahr das gesamte unterirdische Schienennetz aufnehmen und dabei sogar Schäden im Submillimeterbereich, also auch Haarrisse, wahrnehmen können.

Ist das gesamte Netz mit einer Länge von rund 100 Kilometern erfasst, entstehen dabei drei Terrabyte an Daten. Diese lassen sich aber noch durch ein verlustfreies Kompressionsverfahren, das ebenfalls am AIT entwickelt wurde, auf rund 40 Prozent der ursprünglichen Datenmenge reduzieren. In weiterer Folge wird das Bildmaterial katalogisiert, was letztlich die systematische Dokumentation des Schienenzustands inklusive zeitlicher Veränderungen ermöglicht.

Nun ist es für die Verkehrsbetriebe noch unerlässlich zu wissen, wo genau diese Aufnahmen gemacht wurden, um Reparaturen rasch zu planen. Zum Einsatz kommt ein Verortungssystem, das selbst im Untergrund, wo etwa die Satellitenortung nichts taugt, funktioniert: Das Messfahrzeug ermittelt seine Position in Relation zu sogenannten Weichenzungen und -herzen, deren Standorte genau bekannt sind.

Welche Schwierigkeiten es bei der Umsetzung der automatischen Aufnahme von Schienen gab, erklärt Michael Nölle, Projektleiter von fractInspect am Safety and Security Department des AIT: "Dass Schwarz-Weiß-Kameras die Unterschiedlichkeit der Schienenfehler nicht ausreichend erfassen können, war schnell klar. Wir mussten demnach ein 2,5-D-Verfahren mit farbigem Licht entwickeln."

Blaue und rote LEDs

Dabei werden die Schienen nun mit blauem und roten, nicht aber mit grünen LEDs ausgeleuchtet. Grünes Licht erwies sich nämlich als zu schwach für den Schattenwurfeffekt, der die Struktur von Löchern sichtbar und von unbedenklichen Verschmutzungen oder Markierungen der Schienen unterscheidbar macht. Nur die Tiefe der Schäden lässt sich dabei nicht messen, weshalb von einem zweieinhalb- und nicht dreidimensionalen Verfahren die Rede ist. Für die Wartung ist das weitgehend irrelevant: Sogenannte Microcracks verwandeln sich nicht so rasch in Brüche, als dass darauf nicht rechtzeitig reagiert werden könnte.

Nölle ist davon überzeugt, mit fractInspect auch die Grundlage für eine " Schienenforschung" geschaffen zu haben, die in dieser Form bisher nicht denkbar war: "Mit diesen Daten kann man noch wesentlich mehr machen." Denkbar ist etwa, durch den Aufbau von Zeitreihen zu statistischen Fehlerhäufungen an Schienen auch Rückschlüsse auf andere Komponenten zu ziehen: So könnten dadurch die Räder von U-Bahn-Garnituren besser gestaltet werden, damit typische Abnützungserscheinungen am Gleiskörper abnehmen.

Für Markus Ossberger von der Stabstelle Infrastruktur der Wiener Linien ist klar, dass fractInspect in erster Linie ein wichtiges Tool für die Planungssicherheit ist: "An einer Schiene gehen pro Jahr nur wenige Zehntelmillimeter an Material verloren - darauf könnten auch Bahnwärter rasch genug reagieren. Bessere Daten über den Gesamtzustand der Infrastruktur helfen uns aber gerade in Zeiten knapper Budgets früh zu erkennen, welche Arbeiten künftig auf uns zukommen."

Bilder bei 300 km/h

Überlegenswert wäre es für Ossberger, die Kameras in Zukunft an ganz normalen U-Bahn-Garnituren des Linienverkehrs anzubringen. So käme man auch ohne den durchaus relevanten finanziellen und logistischen Aufwand, den ein dezidiertes Messfahrzeug verursacht, regelmäßig an Daten. Die Geschwindigkeit der Züge im Linienverkehr stellt dabei schon jetzt ein vernachlässigbares Problem dar: Theoretisch können mit diesem System selbst bei 300 Kilometern pro Stunde noch scharfe Bilder erzeugt werden.

Schon eher wird so ein Vorhaben derzeit durch die verfügbaren LEDs limitiert: Um die Schienen so auszuleuchten, dass dabei gut zu klassifizierende Bilder von Schäden entstehen, benötigen die Kameras eine absolut dunkle Umgebung. Schon die spärliche Beleuchtung in U-Bahn-Stationen kann sie bei ihrer Arbeit irrtieren.  (Sascha Aumüller, DER STANDARD, 25.4.2012)