"Mit den 'Gefickten der westlichen Industriegesellschaft' reden wir ja nicht. Wir fragen sie nicht, wie es ihnen geht, was sie machen oder denken," so Jacqueline Kornmüller.

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Peter Wolf als der Namenlose in "Die Nacht".

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Ein Namenloser ist in einer regnerischen Nacht auf der Suche nach einem Obdach. Vor sich hinredend und schimpfend versucht er, sich die Welt zu erklären. "Die Nacht kurz vor den Wäldern" des französischen Sozialdramatikers Bernard-Marie Koltès ist ein Gedankenfluss ohne Punkt und Beistrich. Er träumt davon, sich auf eine Wiese zu legen, um sich über alles klar zu werden. Aber Koltès ließ den Namenlosen im Regen stehen, ohne Arbeit, ohne Geld und ohne Behausung, immer wieder verjagt streunt er durch die Straßen.

Die Regisseurin Jacqueline Kornmüller inszeniert Koltès' Bühnenstück derzeit in Wien an öffentlichen Plätzen. Die ZuschauerInnen werden in einem Container untergebracht und können dem Stück zur Gänze folgen, wobei zufällig Vorbeikommende authentische StatistInnen, aber auch Bereicherung der Handlung werden können. Im Gespräch mit dieStandard.at erklärt die Regisseurin die Rolle des öffentlichen Raums, was mit uns passiert, wenn wir "auf unsere Knochen" reduziert sind, und warum wir die "Gefickten der westlichen Industriegesellschaft" derart ausgegrenzen.

dieStandard.at: "Die Nacht" zeigt eine finstere Stunde an einem ebensolchen Ort, die es nach den Regeln der institutionalisierten Welt eigentlich gar nicht geben dürfte. Was veranlasste Sie, "Die Nacht kurz vor den Wäldern" von Koltès zu inszenieren?

Kornmüller: Den Text kenne ich schon sehr lange, bestimmt schon 15 Jahre, und eigentlich ist er eine einzige Katastrophe. Der Text stemmt sich gegen alles, was man formal literarisch kennt, aber er stemmt sich auch in ein ganz normales Leben hinein. Das macht ihn sehr aufregend. Die Situation im öffentlichen Raum ist dabei eine merkwürdige, weil sie eigentlich keine Theatersituation ist, aber eben doch, weil es eine Spielverabredung gibt zwischen dem, der spielt, und dem, der zuschaut. Beide müssen freiwilliger als sonst in diese Handlung eintauchen.

dieStandard.at: Für Obdachlose ist der öffentliche Raum ja essenziell.

Kornmüller: Daher inszenieren wir das Stück auch nicht auf einer klassischen Theaterbühne, sondern auf öffentlichen Plätzen. Am besten zur unwirtlichsten Stunde, bei Wind und Regen. Der Obdachlose ist jemand, mit dem wir uns real nicht beschäftigen. Es geht um jemanden, an dem man normalerweise vorbeigeht, der einen um einen Euro anhaut, dem man manchmal einen Euro gibt und manchmal eben nicht. Im Stück kommt man mit diesem Jemand tief ins Gespräch und lässt sich die Welt erklären. Der Namenlose spricht grundsätzlich mit jemandem, der drinnen ist, aber aus der Perspektive dessen, der draußen ist.

dieStandard.at: Der oder die imaginierte Fremde ist dann das Publikum?

Kornmüller: Manchmal ist es wirklich nur einer, aber ja, der imaginierte Fremde sind die Zuschauer.

dieStandard.at: Was bleibt von Individuen, wenn gesellschaftliche Anbindungen wie Arbeit, Bankkonto oder eine Wohnung verloren gegangen sind?

Kornmüller: Es bleibt der Knochen. Wenn alles das wegfällt, wie denke ich dann? Es bleibt der Knochen und es bleibt die pure Anarchie. Das ist bei jedem Menschen vielleicht auch anders. Es gibt sicherlich Menschen, die mit der Obdachlosigkeit auf Dauer umgehen können, aber es gibt Menschen, die in dieser Situation sehr, sehr unglücklich sind. Wie schlecht es diesen Menschen geht, sehen wir ja.

dieStandard.at: Um mit dem italienischen Philosophen Sergio Benvenuto zu sprechen: Ist der ortlose Mensch unser Spiegel?

Kornmüller: Ja. Ich bin auf folgenden Satz der gebürtigen Koreanerin Anna Kim gestoßen: "Der Reisende ist der Zwilling des Fremden", die verborgene Seite unserer Identität also. Und genauso ist es mit den Obdachlosen. Etwas in uns kennt diesen Zustand zutiefst. Ein Schritt, und wir landen schnell auch in der Obdachlosigkeit. Die Umstände, in denen wir leben, werden immer knapper. Ich glaube, wir kennen diese Vorstellung und auch, sich aus dieser Perspektive tatsächlich den Spiegel zeigen zu lassen, also unsere andere Seite, unsere obdachlose Seite. Die Vorstellung ist vielleicht manchmal eine wünschenswerte.

dieStandard.at: Zurückgeworfen zu werden?

Kornmüller: Ja, auf sich selbst, ohne alles. Ohne das, was uns jeden Tag im Weg steht.

dieStandard.at: In den Wertvorstellungen unserer Gesellschaft ist das aber eher eine Urangst.

Kornmüller: Es kann auch die Urmöglichkeit sein.

dieStandard.at: Das Theaterstück "Die Nacht" ist auch eine Liebeserklärung an die Möglichkeiten der Stadt, die für Obdachlose aber sehr begrenzt sind.

Kornmüller: Es geht darum, dass wir diesen Menschen mit Respekt begegnen. Koltès sagt: In ihrer Denke haben diese Menschen so viel auf dem Kasten, eben weil sie auf ihre Knochen reduziert sind.

dieStandard.at: Der Namenlose ist aber auch erschreckend und verstörend.

Kornmüller: "Die Nacht" ist schon allein sprachlich eine Ansammlung von rauer, derber Sprache. Es kommen bei den Proben oft Menschen auf uns zu und rümpfen die Nase.

dieStandard.at: In Ungarn etwa wurde vor einer Woche beschlossen, Obdachlose für ihre Obdachlosigkeit zu bestrafen, in Österreich gibt es Städte, in denen das Betteln verboten ist, sozial erwünscht ist es nirgends. Wie erklären Sie sich die Ausgrenzung der "Gefickten der westlichen Industriegesellschaft", wie es bei Koltès heißt?

Kornmüller: Die Gesellschaft vertieft ihr Verständnis nicht. Die Gesellschaft rennt hemmungslos in den Konsum. Sie kümmert sich nicht um die Anderen. Mit den "Gefickten der westlichen Industriegesellschaft" reden wir ja nicht. Wir fragen sie nicht, wie es ihnen geht, was sie machen oder denken. Dabei bräuchte man nur zu Ute Bock oder zu Cecily Corti in die VinziRast gehen und schauen, was da abgeht. In einer Zeit des Kommunikationswahns haben wir es hier mit einer unglaublichen Kommunikationslosigkeit zu tun.

dieStandard.at: Am Ende von "Die Nacht" überkommt den Namenlosen die Wut, Trotz besiegt die Trauer. Eine Entwicklung, die für Sie auch real vorstellbar ist?

Kornmüller: Leider nicht. Es ist schon erstaunlich, Frau Mikl-Leitner (Innenministerin, Anm.) hat zu Weihnachten die Parole ausgegeben, die unbegleiteten Minderjährigen kommen nur hierher, um ihre ganze Verwandtschaft nachziehen zu lassen.

dieStandard.at: Sie meinen die vermeintlichen Ankerkinder?

Kornmüller: Was für ein Begriff, aber ja, die meine ich. Ich habe mit vielen migrantischen Jugendlichen gesprochen, und keiner hat das vor, was Mikl-Leitner ihnen unterstellt. Das ist eine Schreckensmär, die uns nicht weiterhilft. Es gibt die Wut, aber nur vereinzelt, und eigentlich braucht es viel mehr. (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at, 26.4.2012)