Konrad Paul Liessmann, geb. 1953 in Villach, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Wien. Habilitation: 1989. Seit 1996 ist er wissenschaftlicher Leiter des "Philosophicum Lech" und Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe im Zsolnay-Verlag. 2011 erfolgte seine Berufung zur Professur für Methoden der Vermittlung von Philosophie an der Universität Wien.

Foto: Heribert Corn

Die "Wiener Vorlesungen" sind 25 Jahre alt.

Die Zahlen sind beeindruckend: 1200 Veranstaltungen, 5000 Referenten, darunter alle großen Intellektuellen der letzten Jahrzehnte, von Marie Albu-Jahoda über Niklas Luhmann bis zu Pierre Bourdieu und Richard Sennett sowie zahlreiche Nobelpreisträger, neun Buchreihen, 250 Publikationen, 500.000 Zuhörer: In einer Welt, in der sich alles um Quantitäten dreht, können die "Wiener Vorlesungen" spielend mithalten. Das Schöne daran: Die Jagd nach Rekorden gehörte nie zum Programm dieser von Hubert Christian Ehalt und seinem kleinen Team im Auftrag der Stadt Wien seit 25 Jahren betreuten Veranstaltungsreihe.

Die Akzente lagen woanders: Es ging um die Konfrontation eines urbanen Publikums mit den relevanten intellektuellen Diskursen, um die öffentliche Präsentation der Fragen, Ergebnisse und Provokationen von sich dynamisch entwickelnden Wissenschaften, um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, um den Versuch, das Denken nicht auf die Universitäten und Akademien zu beschränken, sondern in den öffentlichen Raum einer pulsierenden Stadt zu transferieren.

Es mag ein Zufall gewesen sein und erwies sich doch als Programm: Die erste Vorlesung fand im April 1987 statt, der große Soziologie René König sprach über die Bedeutung der Universitäten für eine Stadt. Damit war das Thema angeschnitten, dem sich die Wiener Vorlesungen verpflichtet fühlen: eine Schnittstelle zu sein zwischen akademischer Wissenschaft und öffentlichem Raum, eine Begegnungsstätte zwischen Experten und Publikum an einem Ort, an dem das alte Ideal der Aufklärung, der öffentliche Vernunftgebrauch, nicht beschworen, sondern einfach praktiziert wird.

Das wirft die Frage nach dem Stellenwert, der Form und den Chancen des wissenschaftlichen Diskurses außerhalb der Scientific Community, außerhalb der definierten Lehr- und Forschungsstätten, außerhalb der Kongresse, Konferenzen und Symposien auf.

Ist es nicht, so ließe sich fragen, eine Eigentümlichkeit der neuzeitlichen Wissenschaft, sich in einer Weise zu institutionalisieren und an selbstgewählten Kriterien zu messen, die eine Außenorientierung an einem interessierten, aber nicht dem Fach zuzurechnenden Publikum nicht mehr zulassen kann, es sei denn um den Preis einer problematischen Popularisierung? Inwiefern ist der öffentliche Vernunftgebrauch in Zeiten des Internets noch an jene Idee von Urbanität gebunden, die einst in den Städten die Zentren und Orte der Aufklärung sehen wollte?

Stadtluft macht frei. Diese mittelalterliche Maxime galt nicht nur für den Bereich des politischen und sozialen Lebens, sondern auch für das Denken. Die Bedeutung von Bildung und Wissen, letztlich von Kultur für eine prosperierende Stadt ist kein Novum der Wissensgesellschaft. Natürlich: Die Kultur ist keine Erfindung der Stadt, und der Anteil der Kirche, der Klöster, der Fürstenhöfe an der Entwicklung der europäischen Kultur und der Wissenschaften ist höchst bedeutsam.

Aber Kultur in einem modernen Sinne, als Ausdruck radikaler wissenschaftlicher Neugier, ästhetischer Autonomiebestrebungen, als Repräsentation bürgerlichen Selbstbewusstseins, als Manifestation kritischer Stellungnahmen, als Kommunikations- und Lebensstil lebt von den Verdichtungsmöglichkeiten, die sich nur in einer Stadt ergeben.

Als prägendes Element einer Stadt sind Wissenschaft und Kunst ein relativ spätes Phänomen, vieles, was das kulturelle Leben und die Architektur von Stadtzentren bis heute prägt - Museen, Theater, Opernhäuser, Bibliotheken, Schulen, Universitäten -, stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist auch Dokument der Ablösung des aristokratischen Lebensstils durch die städtische Welt des Bürgers. Bis heute ist man geneigt zu sagen, dass eine Stadt ohne diese Einrichtungen keine Stadt ist.

Zur Idee von Urbanität gehört deshalb die Auseinandersetzung der Bürger mit den relevanten Fragen und Formen des Wissens an einem öffentlichen Ort. Die Wiener Vorlesungen, die in erster Linie im Rathaus stattfinden, signalisieren durch diese Wahl des kommunalen politischen Zen-trums als Stätte der intellektuellen Auseinandersetzung und Begegnung den Zusammenhang von Wissen, Wahrheit und Politik - und dies im Bewusstsein, dass Politik und Wahrheit einander mitunter ausschließen.

Die Wiener Vorlesungen verstanden sich, trotz der Prominenz ihrer Protagonisten, deshalb auch nie als Reigen der großen Namen, der imstande ist, eine unspezifische, aber spektakuläre Aufmerksamkeit zu akkumulieren. Die Wiener Vorlesungen - und das ist bei einem Unternehmen dieser Größenordnung schon erstaunlich - haben ein inhaltliches Programm. Es geht ihnen um die Präsentation von gesellschaftskritischen Positionen abseits des Mainstreams, um die Schärfung der Argumente, um Themen, die anderenorts vernachlässigt oder an den Rand gedrängt werden, um Bildung und Wissen in einem emphatischen Sinn, um Aufklärung und den Anspruch, auch einmal gegen den Zeitgeist dort zu argumentieren, wo dieser die Ideale der Aufklärung, der Demokratie und der Humanität konterkariert oder gar höhnisch für überholt erklärt.

Kein Diskurs ohne Widerspruch

Die Kritik am Neoliberalismus und an der Ökonomisierung aller Lebensbereiche gehört zu den programmatischen Ausrichtungen der Wiener Vorlesungen. Das mag nicht jedermanns Sache sein und für manchen sogar eine Provokation darstellen. Aber der streitbare öffentliche Diskurs ist das Ziel der Wiener Vorlesungen, und es gibt keinen Diskurs ohne Widerspruch. Durch eine kluge Regie bei Vortragenden und ihren Diskussionspartnern ist dieser Diskurs oft im Rahmen dieser Vorlesungen selbst zu verfolgen.

Es ist das gesprochene Wort, der lebendige Gedanke, die in einen Raum vor hunderten Menschen vorgetragene These, der Wille, sich nicht vor Fachkollegen, sondern von einer wissbegierigen Bürgerschaft zu artikulieren, der die Atmosphäre dieser Vorlesungen ausmacht. Nebenbei demonstrieren diese, wie wichtig nicht nur die Öffnung der Wissenschaften für ein Gemeinwesen ist, sondern auch, dass die Urform der Vermittlung von Wissen, die öffentliche Rede, nichts von ihrer Faszinationskraft eingebüßt hat.

Dass die Form dieser Reihe in erster Linie der klassischen Idee der Vorlesung verpflichtet ist, ist deshalb alles andere als ein Anachronismus. Auch, ja gerade in Zeiten der virtuellen Netze und Datenbänke, der Internet-Enzy klopädien und Smartphone-Recherche erweist sich die reale Begegnung mit Menschen, die ihr Leben in den Dienst der Forschung stellen, als ein entscheidender Faktor für die Konstitution eines kritischen Bewusstseins. Wohl verweigern sich auch die Wiener Vorlesungen nicht den modernen Kommunikationsmedien. Aber es ist doch bemerkenswert, wie sich die oft totgesagte Form der Vorlesung sogar in diesen behauptet, was sich etwa an der Kooperation der Wiener Vorlesungen mit ORF 3 ablesen lässt.

Im Rückblick auf 25 Jahre erweisen sich diese Vorlesungen auch als zeithistorisches Dokument ersten Ranges. Allein die Lektüre der publizierten Vorlesungen gibt einen faszinierenden Einblick in Positionen und Debatten, auch in Irrtümer und Fehlurteile, vor denen das anspruchsvolle Denken prinzipiell nicht frei sein kann.

Wer sich etwa an Wolfgang Leonhards Vorlesung über die Perspektiven der Reformierbarkeit des Sowjetreiches erinnert oder an Werner Hechts Überlegungen zur Zukunft der DDR, weiß auch einiges über die Differenz zwischen zeitdiagnostischer Analyse und historischer Erfahrung. Wer, umgekehrt, noch Niklas Luhmanns Vorlesung über die neuzeitliche Wissenschaft oder Adolf Holls Überlegungen zur religiösen Militanz im Ohr hat, weiß um die ebenso verblüffende perennierende Relevanz mancher Einsichten.

Die Geschichte der Wiener Vorlesungen sind auch ein Zeugnis der geistigen Stationen in einer Epoche der großen Umbrüche, die manchmal antizipiert, manchmal unterschätzt, immer aber gewinnbringend kommentiert wurden. Der Ruf Wiens als ein Ort des lebendigen Denkens verdankt sich nicht zuletzt dieser Institution.

Diese eröffnet nicht nur den Bürgern dieser Stadt einen Raum des lebendigen, engagierten und kontroversiellen Wissens, sondern gibt auch den Wissenschaften die Chance, nicht nur ihre gesellschaftspolitische Relevanz jenseits von Kennziffern, Drittmitteln, Rankings und Publikationslisten zu demonstrieren, sondern auch selbst modellierend in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen und das zu tun, was ansonsten nicht mehr unbedingt zum Standardrepertoire der wissenschaftlichen Vernunft gehört: eine Position zu beziehen und eine Haltung an den Tag zu legen. (Konrad Paul Liessmann, Album, DER STANDARD, 28./29.4.2012)