Das deutsche Leitmedium arbeitet sich an biologistischem Geschlechterwissen ab.

Foto: Matthias Cremer

Die vorgeschützten Argumente bedienen keine "Zurück zum Herd"-Agenda, sondern neoliberale, neokapitalistische Diskurse, sagt die Schweizer Autorin Lou-Salomé Heer.

Foto: Cover Lou-Salomé Heer, Das wahre Geschlecht, Chronos

Was macht die Frau zur Frau, was den Mann zu selbigem? Was ist die "Natur" der Geschlechter? Fragen zur Beschaffenheit des "wahren Geschlechts" werden von Sozial- wie Naturwissenschaften zu beantworten versucht und mittlerweile auch intensiv in den Medien verhandelt. Wer in dieser als Wissenskampf inszenierten Debatte mit ExpertInnenwissen zu Wort kommen darf und wie sich der Diskurs im Laufe der Zeit verändert hat, beschäftigt die Schweizer Autorin Lou-Salomé Heer. Sie zerpflückt in ihrer detailreichen Analyse die massenmediale Welle aus vornehmlich biologistischen Argumenten, die uns mit Erklärungen zu Geschlechterunterschieden überrollen, und zwar anhand des deutschen Leitmediums "Der Spiegel".

dieStandard.at: Sie schreiben in "Das wahre Geschlecht", dass am Beginn Ihrer Forschung Empörung und Wut standen. Worüber?

Heer: Es gab immer wieder einen Anlass: Vereinfachende biologistische Erklärungen für die Geschlechterverhältnisse sind in den Massenmedien allgegenwärtig; seien dies zum Beispiel die bekannten Paarratgeber, die ich hier ungern erwähne, seien dies Zeitschriftenbeiträge oder auch unterschiedliche Fernsehformate, die unablässig die gleichen Geschichten von jagenden Höhlenmännern und sammelnden Höhlenfrauen wiederholen und damit gegenwärtige Geschlechterverhältnisse erklären und Geschlechterstereotypen bedienen.

Natürlich kann argumentiert werden, dass diese Geschichten oftmals der Unterhaltung dienen und nicht weiter ernst zu nehmen seien. Aber erstens teile ich diese Ansicht nicht, denn sie dienen eben nicht "nur" der Unterhaltung, und zweitens: Was ist daran eigentlich so spaßig?

dieStandard.at: Geschlechterstereotypen werden nicht nur im "Spiegel" durchgekaut. Warum haben Sie gerade das deutsche Magazin herangezogen?

Heer: Natürlich hätte sich dabei eine Untersuchung von explizit populärwissenschaftlich ausgerichteten Medien angeboten. Aber ich fand interessant, dass mit biologistischem Geschlechterwissen "Spiegel"-Titelgeschichten gemacht werden. Titelbilder sollen ja Aufmerksamkeit generieren und LeserInnen gewinnen und verweisen so auf die redaktionelle Gewichtung von bestimmten Themen.

Außerdem ist der "Spiegel" ein deutschsprachiges Leitmedium. Gerade viele JournalistInnen nutzen das Magazin zur Eigenorientierung, und dies hat auch Auswirkungen darauf, welche Schwerpunkte andere deutschsprachige Medien setzen. Und der "Spiegel" ist eines der auflagenstärksten Printmedien in Deutschland. Als Quellenkorpus bietet er sich zudem an, weil der "Spiegel" seit über 60 Jahren in seiner ihm typischen Aufmachung erscheint.

dieStandard.at: Werden die biologistischen Erklärungsversuche im "Spiegel" denn antifeministisch verwendet? 

Heer: Ich kann nur für die von mir untersuchten Titelgeschichten sprechen, und dort wird deutlich, dass biologistische Argumente nicht eingesetzt werden, um Frauen an den Herd zurückzubeordern, im Gegenteil. Es gibt hier grob gesagt zwei Argumentationsstrategien, in denen Biologie und Wirtschaft miteinander verknüpft werden: Eine betont, dass Frauen keineswegs die braven Heimchen am Herd sind, sondern es ebenso gut mit dem Konkurrenzkampf in der Arbeitswelt aufnehmen können. Dies verknüpft und begründet mit der soziobiologischen Aussage, dass Frauen nicht einfach passive Empfängerinnen männlicher Spermien sind, sondern sehr wohl über aktive und geschickte Fortpflanzungsstrategien verfügen.

Die andere Strategie funktioniert folgendermaßen: Frauen verfügen über bestimmte evolutionsbedingte Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Kooperations- und Organisationsgeschick sowie Bewusstsein für Nachhaltigkeit, und diese Fähigkeiten werden als in Führungspositionen zunehmend gefragt dargestellt.

Bestimmte Forderungen der Frauenbewegung werden hier also durchaus aufgegriffen und lassen sich nicht so einfach als antifeministisch abkanzeln, gerade wenn man sich bewusst ist, dass es sehr vielfältige Formen von Feminismen gibt.

dieStandard.at: Schließen Sie daraus, dass in der Biologie verortete Argumente einem profeministischen Diskurs auch zuträglich sein können?

Heer: Die Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie weist darauf hin, dass feministische Politik nicht einfach zum Ziel haben kann, Frauen in eine bestehende soziale Ordnung zu integrieren, sondern auf einer Veränderung dieser Ordnung bestehen müsse. Dem möchte ich absolut zustimmen, und gerade in der Anrufung von Frauen als aktiven und flexiblen Leistungssubjekten, als kompetenten Managerinnen ihrer selbst, die mit widersprüchlichen und vielfältigen Anforderungen souverän umzugehen wissen und irgendwie alles unter einen Hut bringen, sehe ich unter den gegebenen Umständen keine widerständige Kraft.

Letztlich bin ich der Ansicht, dass diese Argumentationen neoliberale, neokapitalistische Diskurse unterfüttern und sich gleichzeitig auch aus ihnen speisen, denn grob gesagt wird folgendes Bild bedient: Der Geschlechtskörper ist kein eindeutiges Schicksal, sondern eine Ressource, ein Potenzial, das es mit dem Versprechen auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bestmöglich auszuschöpfen gilt. Und bestmöglich heißt gewinnbringend auf wirtschaftlicher Ebene.

dieStandard.at: Eine Ihrer Forschungsfragen sucht Antwort auf Folgendes: Haben die Natur- die Sozialwissenschaften als Erkenntnis- und Legitimationsquelle abgelöst? Haben sie?

Heer: In der medialen Inszenierung des "Spiegel" haben die Sozialwissenschaften in den 1990er-Jahren an Sichtbarkeit und Autorität verloren, und "die Biologie" oder "die Naturwissenschaften" sind der dominierende Bezugsrahmen. Damit werden Titelgeschichten gemacht, und biologisch argumentierende ExpertInnen erhalten eine große Plattform. Interessant ist, dass diese ExpertInnen oftmals auch AutorInnen von Sachbüchern und geschickte PopularisatorInnen sind bzw. sich und ihre Thesen gut zu inszenieren wissen. Überhaupt ist eine starke Anbindung an einen originär englischsprachigen populärwissenschaftlichen Büchermarkt feststellbar.

dieStandard.at: Woran hapert es bei der medialen Vermittlung queer-feministischer Theorie?

Heer: Für mich zeichnen sich queer-feministisches Wissen und queer-feministische Theorie dadurch aus, dass sie sich vereinfachenden und vorherrschenden Deutungsmustern von Mann/Frau, Natur/Kultur und eindimensionalen Erklärungen verweigern. Herkömmliche Grundannahmen werden in Frage gestellt, vermeintliche Selbstverständlichkeiten lassen sich nicht mehr bequem hinnehmen.

Die Geschlechterforscherin und Soziologin Nina Degele spricht deshalb zum Beispiel von einer "Verunsicherungswissenschaft". Damit lassen sich bestimmte massenmediale Logiken eben nur schlecht bedienen, und wenn man sich dieser Logik oder diesem Diskurs nicht unterwirft, ist man auch nicht Teil davon. Aber das ist nur eine mögliche Erklärung.

dieStandard.at: Stehen Natur- und Sozialwissenschaften sich denn unvereinbar gegenüber?

Heer: Selbstverständlich stehen sie sich nicht unvereinbar gegenüber, das zeigen gerade feministische NaturwissenschaftlerInnen, die sich nicht einfach einer Disziplin zuordnen lassen. Aber die Inszenierung eines Wissenskampfes "nature" gegen "nurture" bedient gewisse mediale Eigenlogiken wie Emotionalisierung und Skandalisierung. (Birgit Tombor, dieStandard.at, 7.5.2012)