Ein rotes Band der Poesie, behängt mit Schülergedichten, zog sich durch Meran. Über ein paar hundert Meter spannte es sich von der Stadtbibliothek bis zum Kurhaus, wo die neun Finalisten des Lyrikpreises Meran vor Publikum und Jury ihre Gedichte lasen - und so den Südtiroler Kurort zum elften Mal zur Hauptstadt des deutschsprachigen Gedichts machten.

Vielleicht ist es bezeichnend, dass dieser Preis, der sich einer als schwierig geltenden Gattung verschrieben hat, ausgerechnet am äußersten Rand des deutschen Sprachraums vergeben wird. Andererseits hat es auch etwas Folgerichtiges, dass man sich gerade hier, in einer Region des Übergangs, wo die italienische Sprache das verstummende Deutsch und das Mediterrane das Alpine ablöst, dieser Form widmet. Sie bedarf der Aufmerksamkeit, gerade weil sie nicht immer leicht zugänglich ist, es auch nicht sein will.

Man kann Gedichte auch zu Tode interpretieren, was die aus dem Übersetzer Hans Jürgen Balmes, Maria Gazzetti (Lyrikkabinett München), dem Salzburger Germanisten Hans Höller, der Zürcher Autorin Ilma Rakusa und dem Berliner Schriftsteller Jan Wagner bestehende Jury meist vermied. So wurden die Gedichte der neun Finalisten (von insgesamt 400 Einreichungen) zwar kundig auf ihre Form, auf Assonanzen, Alliterationen und Enjambements geprüft, doch die inhaltlichen Interpretationen divergierten je nach Temperament der Juroren beträchtlich.

Was schön ist. Lyrik ist mehrdeutig, sie verändert sich, ohne ihr Geheimnis zu verlieren, bei jedem Lesen. Darum sei das Gedicht dem Tor auch näher als dem Editor, dem Verleger, kalauerte der Lyriker Klaus Merz einmal. Narren spielten gleich in zwei der drei Meraner Siegerbeiträge eine Rolle. "wir sind keine archivare / bedeuet die ziege der närrin / wir warten nicht auf die arche / bedeutet die närrin der ziege // aus subraumrissen sprießt gras" heißt es im Qapla über Widerstand in einer normierten Welt, mit dem Karin Fellner den 3. Preis (2500 Euro) gewann. "Im Turm / der Narr der Herrlichkeit, der legt sich fest / auf einen Namen, eine gerade Sprache!", schreibt indes Uwe Kolbe, Gewinner des Hauptpreises (8000 Euro), im Zyklus Curriculum vitae, der Stationen einer Dichterbiografie vergegenwärtigt.

Es war Lyrik von hoher handwerklicher Qualität, die zu hören war. Am literarischen Niveau der neuen deutschen Finalisten gab es nichts auszusetzen. Man bewegte sich auf zuweilen konventioneller Augenhöhe, was der Jury die Preisentscheidung wahrscheinlich nicht erleichterte. Uwe Kolbe, 1957 in Ostberlin geboren und in der DDR mit Publikationsverbot belegt, ist daher mit seiner anspielungsreichen Lyrik ein schlüssiger Preisträger.

Es ließe sich aber darüber diskutieren, ob er auch der richtige ist. Vielleicht spricht gerade diese Streitbarkeit für die Lebendigkeit des Lyrikpreises, in dem die Beiträge von Daniela Danz, Thomas Kunst und Stefan Heuer ebenso überzeugten wie jener von Christoph Wenzel, der mit seinen Gedichten über den Niedergang eines Bergbaugebietes den mit 3500 Euro dotierten zweiten Preis gewann. (Stefan Gmünder aus Meran, DER STANDARD, 7.5.2012)