Wien - Für jene, die alle rätselhaft wirkenden Bühnenqualitäten in sich vereinen, ist es ein Leichtes, auch einen Raum wie den Goldenen Musikvereinssaal aufwandlos mit Atmosphäre aufzuladen. Eine Sängerin wie Jessye Norman etwa stellte sich einst, in ihrer besten Zeit, beim Liederabend einfach zum Klavier und zauberte mit einem Lächeln gleich die Intimität eines Kammermusikraumes herbei, um diesen Eindruck dann singend zu vollenden.

Anna Netrebko müsste ähnlich wenig Aufwand betreiben. Zu Beginn ihres Abends nimmt sie auch nur die obligate Liedsängerposition beim Flügel ein, den Daniel Barenboim kostbar klingen lässt; und es wirken die ersten Lieder von Nikolai Rimski-Korsakow zwar nicht ganz nervositätsfrei (u. a. kleiner Intonationspatzer bei Auf den Höhen Georgiens), aber sie wirken eindeutig.

Netrebko könnte es dabei belassen. Ihrem theatral-lebendigem Naturell allerdings entspricht es offenbar nicht, sich nur mit Noten auszudrücken. Je weiter dieser bemerkenswerte Abend voranschritt, desto größer jedenfalls der Eindruck eines inszenierten Liederabends, der nirgends aufgesetzt wirkte: Wenn Netrebko sich langsam im Kreise drehte, damit auch die auf der Bühne sitzenden Zuhörer die Pracht des vokalen Luxussounds erhaschen, oder beim formidablen Im Reich der Rose und des Weines operngestische Rhetorik in Einsatz brachte, war dies ebenso wenig effekthascherisch, wie sich beim Singen mit beiden Händen an Barenboims Schultern anzulehnen.

Bei durchgehend geschlossenen Augen jedoch hätte der Abend ebenso beeindruckt: Netrebkos Gesang hat zwar keinen doppelten Interpretationsboden, ihr kostbares Timbre ist aber bei diesem russischen Repertoire der oft großen tragischen Gefühle, denen sie nach wie vor in der Höhe ein äußerstes Maß an Fülle und Wohllaut verleiht, gut aufgehoben. Ob sie nun wie bei Gefangen von der Rose ... orientalische Melismen zelebriert oder bei Tschaikowskys So schnell vergessen die Linien bewusst dünn und fahl klingen lässt - es bleibt bei kostbarstem lyrischem Fließen des Gesangs, dem Barenboim mit subtilen Interventionen - durchdacht und zugleich poetisch - auch noch ein gewisses Extra verleiht.

Finaler Teil der Inszenierung: Im Zugabenblock sitzt Netrebko plötzlich neben Barenboim und singt Strauss' Und morgen wird die Sonne wieder scheinen. Vielleicht sollte damit signalisiert werden, es wäre nur ein Experiment gewesen. Sollte dereinst aber der Akzent gebändigt werden, darf das Lied durchaus wiederkommen. (Ljubiša Tošić, DER STANDARD, 8.5.2012)