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Präzise Daten und die Erkundung der Lage – etwa darüber, wie sehr Angehörige ethnischer Minderheiten der Polizei vertrauen – stärken laut Morten Kjaerum EU-weit das Grundrechtsbewusstsein.  

Foto: APA/EPA/Linhardt

Ausländerfeindlichkeit und Hass auf Minderheiten seien ein Risiko für den Zusammenhalt der EU, meint der Direktor der Grundrechtsagentur der Union, Morten Kjaerum. Mit ihm sprach Irene Brickner.

 

STANDARD: EU-weit fahren rechtspopulistische und rechte Parteien mit ausländerfeindlichen Forderungen bei Wahlen Gewinne ein, etwa in Frankreich und Griechenland. Ist diese Entwicklung eine Gefahr für die EU?

Kjaerum: Auf alle Fälle ist sie Anlass zur Besorgnis, denn sie läuft den Zielen der EU zuwider. Die Union baut auf Demokratie, Gleichheit, Menschenrechten auf. Der Kampf gegen die Marginalisierung von Minderheiten ist einer ihrer Schwerpunkte, nicht zuletzt, weil es in der europäischen Geschichte viele Tiefpunkte gab.

STANDARD: Warum sind hetzerische Positionen in Europa derzeit so attraktiv? Wegen des Sparens infolge der Banken- und Schuldenkrise?

Kjaerum: Das ist die einfache Erklärung. Sie besagt, dass Sündenböcke gesucht werden - und die aktuellen Entwicklungen in krisengeschüttelten Unionsstaaten wie Griechenland weisen in diese Richtung. Andererseits jedoch fand der Aufstieg ausländerfeindlicher Bewegungen und Parteien etwa in Nordeuropa in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität statt. Es gibt kein klares Muster.

STANDARD: Was trägt die Grundrechtsagentur (FRA) hier zur Klärung bei?

Kjaerum: Sie erkundet die Lage mit wissenschaftlichen Mitteln, also mit Umfragen und Studien (siehe Wissen). So ist, wie wir herausgefunden haben, die Hetze gegen Menschen mit Behinderung offenbar EU-weit ein Problem.

STANDARD: Sie meinen, dass behinderte Menschen EU-weit benachteiligt werden?

Kjaerum: Nicht nur, es geht auch um körperliche Angriffe und Verbrechen aus Hass. Erste Studienergebnisse zur Lage von Menschen mit psychischen Behinderungen haben hier Hinweise auf umfassende Probleme erbracht. Das sind erstmals EU-weite Daten, aus Nord- und Westeuropa, wo die Psychiatrie einen Prozess der Deinstitutionalisierung hinter sich hat, ebenso wie aus Mittel- und Osteuropa, wo das bisher wenig oder gar nicht geschehen ist.

STANDARD: Keinen Auftrag hat die Agentur, wenn es um die zunehmenden, krisenbedingten sozialen Probleme geht - Stichwort neue Armut. Warum dies?

Kjaerum: Weil die Agentur kein breiteres Mandat als die EU als Ganzes haben kann - und Sozialpolitik untersteht nach wie vor nationalen Kompetenzen. Und das hat auch historische Gründe: Die sozialen Menschenrechte - Schutz vor Armut, Recht auf Auskommen, Solidarität - wurden im Kalten Krieg in Westeuropa den bürgerlichen und politischen Menschenrechten nachgereiht - Stichwort Dissidenten. Das wirkt bis heute nach.

STANDARD: Ist das ein Problem?

Kjaerum: Ich möchte es vielmehr als offene Frage bezeichnen. Bei der Gründung der Agentur 2007 war im Gespräch, ihr das Mandat zu erteilen, für sämtliche Grundrechtsbelange auf EU-Boden zuständig zu sein, egal ob die Union die Kompetenz dazu hat oder nicht. Die Entscheidung fiel für das enger gefasste Mandat.

STANDARD: Dies hat zur Folge, dass die Grundrechtsagentur nicht aus eigener Initiative tätig werden kann, etwa in Hinblick auf aktu elle Grundrechtseinschränkungen wie derzeit in Ungarn. Stört das?

Kjaerum: Nein, denn wir müssen nicht das Gleiche wie der Europarat tun, der die Situation in einzelnen Mitgliedstaaten im Fokus hat. Wir arbeiten mit dem Europarat zusammen - etwa bezüglich der Konvention gegen Gewalt an Frauen, zu der wir die größte je in Europa zu diesem Thema durchgeführte Befragung in allen 27 Mitgliedstaaten gestartet haben.

STANDARD: Ein solcher EU-weiter Überblick ist neu. Was nützt er?

Kjaerum: Er bietet Mitgliedstaaten Grundlagen für konkrete Maßnahmen. EU-Richtlinien können zügig und effektiver in nationales Recht umgesetzt werden. Zudem sind unsere Daten für viele Staaten neu. So etwa, dass EU-weit rund 80 Prozent aller Angehörigen ethnischer Minderheiten nicht zur Polizei gehen, wenn sie angegriffen wurden, weil sie meinen, das würde nichts ändern. Innenminister müsste das alarmieren.

STANDARD: Tut es das?

Kjaerum: Feedback gibt es. Unser Handbuch zum Ethnic Profiling, also über das Fokussieren auf Verdächtige mit ausländischem Aussehen, wird an österreichischen Polizeiakademien verwendet. (DER STANDARD, 12.5.2012)