Beklemmende Dokumentationsperformance: "Hunger", der zweite Teil des "Memory"-Projekts des Living Dance Studios aus Peking.

Foto: Wiener Festwochen / Armin Bardel

Wien - Es sollte "Der Große Sprung nach vorn" werden. 1958 mobilisierte Mao sein Reich. Er wollte China aus der Mitte katapultieren: erst England überholen, dann die USA. Am Ende des Sprungs, 1961, waren, so das Mittel der Schätzungen, 30 Millionen Chinesen verhungert. Das Living Dance Studio aus Peking, geleitet von der Choreografin Wen Hui und dem Dokumentarfilmer Wu Wenguang, hat bei den Wiener Festwochen im zweiten Teil ihres Memory-Projekts unter dem Titel Hunger den Versuch einer künstlerischen Erinnerungsarbeit an dieses Desaster präsentiert.

Zur Vorgeschichte: Start einer Oral-History-Initiative gegen offizielle Geschichtsklitterung und das allgemeine Vergessen. 21 Laien-Dokumentarfilmer reisten im Jahr 2010, mit Videokameras ausgestattet, von Peking aus in ihre Herkunftsdörfer, um dort mit Zeitzeugen der Hungersnot zu sprechen. Heute hat das Projekt mehr als sechzig Teilnehmer, die bisher Interviews mit über 600 Personen aus 190 Dörfern führten.

Neun der Teilnehmer haben jetzt ihre Videos in einer knapp vierstündigen Performance im Schauspielhaus gezeigt. Die Berichte, die Bilder gehen durch Mark und Bein. Mao vernachlässigte die Landwirtschaft zugunsten seiner industriellen Revolution. Die Dörfer wurden in Kommunen verwandelt, deren Bewohner nicht mehr selbst kochen durften, sondern gemeinschaftlich in Volksküchen essen mussten. Die Ernährung brach zusammen: Fünf Dekagramm Reis täglich gab es für ein Kind, für einen Erwachsenen siebeneinhalb. Die Landbevölkerung aß Gras, Blätter, Fladen aus Baumrinde, hatte aber trotzdem Schwerarbeit zu verrichten.

Gerne reden die Zeitzeugen nicht über diesen Horror. Durchwegs arme Leute übrigens. Sie hausen in elenden Nestern, die Chinas Sprung in den Finanzkapitalismus nicht erreicht hat.

Erzählungen von unmittelbar Erlebtem vermitteln ein anderes Wissen als abstrakte Darstellungen. Und dafür braucht es Zeit. Hunger hätte acht Stunden dauern sollen. Auch die Hälfte vermittelt noch ein Empfinden dafür, was der von Terror begleitete Hunger wirklich hieß. Wie qualvoll die Menschen starben, wie sie wegen Mundraubs getötet wurden. Und wie aussichtslos die Situation war. Eine Mutter erzählt, sie habe die Innereien eines den Kommunekadern (die heimlich Reserven hielten) entwendeten Schweins gekocht. Ihr kleiner Sohn sei daran erstickt. Seine Schwester habe die Reste aus dem Mund des Toten geholt und gegessen.

Die Gestaltung der Performance bleibt spartanisch. Ein Zeitzeuge und acht Jugendliche auf der Bühne. Taschenlampen symbolisieren die Suche nach der Wahrheit. Live-Erzählungen ergänzen das Videomaterial. Hunger ist ein wichtiges Statement der Dokumentationsperformance. Und eines, das wohl über Chinas Tellerrand hinausreicht. (Helmut Ploebs, DER STANDARD, 23.5.2012)