"In der Hackordnung der Welt wird Europa abrutschen", sagt Axel Börsch-Supan, der zur Ökonomie des Alterns forscht. Vor allem bei den Frühpensionen müsse sich etwas ändern.

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Robert Czepel sprach mit ihm über Nutzen und Nachteil des Alterns für die Gesellschaft

STANDARD: Donald Rumsfeld hat 2003 von "Old Europe" gesprochen. Demografisch gesehen eine zutreffende Formulierung, oder?

Börsch-Supan: Völlig richtig. Wir sind im Nachteil gegenüber den Vereinigten Staaten. In der Hackordnung der Welt wird Europa abrutschen. Das können wir nur dadurch kompensieren, indem wir ökonomisch besser werden.

STANDARD: Was verstehen Sie konkret unter Hackordnung?

Börsch-Supan: Das Gewicht einer Nation hängt auch von der Wirtschaftskraft ab. Böse formuliert: Durch unsere Ausgaben bei Pensionen, Krankenversicherung und Sozialleistungen haben wir einen Klotz am Bein. Länder, die das nicht haben, können mehr in Schulen und Bildung investieren.

STANDARD: Was schlagen Sie vor, um die Situation zu verbessern?

Börsch-Supan: Vor allem die Leistungen bei Frühpensionierungen werden wir nicht durchhalten können. Wenn wir alle älter werden, müssen wir auch länger arbeiten. Österreich hat ein relativ frühes Pensionsalter und hat daher eine Menge Potenzial, um die Alterung zu kompensieren.

STANDARD: Könnten Sie das in Zahlen ausdrücken?

Börsch-Supan: Die Lebenserwartung steigt alle zehn Jahre ungefähr um drei Jahre. Wenn das Leben so aufgeteilt ist, dass die Arbeitszeit doppelt so lang dauert wie die Pension, dann müssen die drei Jahre entsprechend aufgeteilt werden: zwei Jahre für die Arbeit, ein Jahr für die Pension.

STANDARD: Die Politik müsste das Pensionsalter pro Jahrzehnt um zwei Jahre anheben?

Börsch-Supan: Eleganter wäre es, das zu automatisieren. Das wird schon in vielen Bereichen gemacht: Die Höhe der Pensionen richtet sich nach der Inflation und der Produktivität. Dann gäbe es eben jedes Jahr eine kleine Änderung des Pensionsalters. Das System wäre viel flexibler. Es könnte auch einmal umgekehrt sein: nämlich, dass die Lebenserwartung wieder sinkt. Das haben wir etwa in Russland beobachtet. Nach dem Auseinanderfallen der UdSSR sind das Sozial- und das Gesundheitssystem zusammengebrochen. Der Wodka- und Zigarettenkonsum ist im selben Zeitraum enorm nach oben gegangen.

STANDARD: Gibt es Länder, die ihr Pensionsalter automatisiert anpassen?

Börsch-Supan: Indirekt tun es Italien, Schweden, Polen, Estland. Direkt, also durch Berechnung mit einer Formel, passen nur die Norweger das Alter an.

STANDARD: Haben Sie Angst um Ihre Pension?

Börsch-Supan: Nicht mehr und nicht weniger als alle anderen, weil wir völlig von der zukünftigen Wirtschaftskraft abhängen.

STANDARD: "Die Alten nehmen den Jungen die Jobs weg": Stimmt das?

Börsch-Supan: Das ist grob falsch. Gerade in jenen Ländern, wo es viele Frühpensionisten gibt, ist die Arbeitslosigkeit unter den Jungen am höchsten. Die Erklärung ist: Frühverrentung ist sehr teuer. Diese Kosten müssen die Beitragszahler tragen. Die Arbeitgeber stellen dadurch weniger Leute ein, weil diese teurer sind. Kurz: Frühverrentung schafft Arbeitslosigkeit. Stellen Sie sich einen Kiosk vor, da gehen drei Personen rein. Bevor noch jemand reinkann, muss vorher ein anderer raus. Aber eine Volkswirtschaft ist kein Kiosk, der Arbeitsmarkt ist flexibel. Er lebt und atmet.

STANDARD: Gegen längeres Arbeiten sprechen allerdings gesundheitliche Aspekte.

Börsch-Supan: Die Gesundheitsunterschiede sind innerhalb einzelner Jahrgänge um vieles größer als jene zwischen 60- und 70-Jährigen. Nach 70 oder 75 zieht das Argument, aber nicht in den Bereichen, in denen wir uns momentan befinden.

STANDARD: Zumindest nimmt die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter ab. Ein Grund, die Leute doch früher in Pension zu schicken?

Börsch-Supan: Der IQ nimmt ab einem Alter von 25 ab. Insofern könnte man Leute bereits mit 26 in Pension schicken - was natürlich absurd ist. Die Gelassenheit, die beruflichen Netzwerke: All das ist schwer zu messen, deswegen stürzen wir uns auf den IQ, der leicht zu bestimmen ist, und vergessen dabei die Erfahrung. Selbst bei harten Jobs - etwa bei der Automontage, dem Verarbeiten von Versicherungsanträgen - nimmt die Produktivität bis ins Alter von 65 nicht ab. Was danach passiert, wissen wir nicht, weil dann kaum noch Leute arbeiten.

STANDARD: Wie verteilen sich die Gesundheitskosten zwischen Jung und Alt?

Börsch-Supan: Die Älteren sind übermäßig repräsentiert, doch das liegt nicht am Alter per se. Die mit Abstand größten Gesundheitskosten entstehen in den letzten beiden Lebensjahren - und die finden eben öfter im Alter statt. Der große Anstieg der Gesundheitskosten der letzten zehn, 20 Jahre liegt am Fortschritt der Medizin. Die Medizin ist nun wesentlich teurer als früher, aber sie leistet auch viel mehr. Wir kriegen etwas für unser Geld, nämlich Lebensjahre. (Robert Czepel, DER STANDARD, 23.5.2012)