Auf den ersten Blick scheint das Resultat der ägyptischen Präsidentschaftswahlen recht simpel: Der Wunsch der Ägypter und Ägypterinnen ist, dass ein Islamist und ein Mann des alten Regimes in die Stichwahlen Mitte Juni kommen. Das sind demnach die stärksten Trends in der Bevölkerung, die zwischen Islam einerseits und der alten Ordnung andererseits geteilt ist. Abseits dieses Ergebnisses ist die politische Landschaft jedoch viel differenzierter. Und umso bedauerlicher ist die gefährliche Polarisierung, in die Ägypten nun gedrängt wird.

Angesichts der Wahlbeteiligung von 46 Prozent und ihren Werten von unter 25 Prozent können die beiden Erstplatzierten - der Muslimbruder Mohamed Morsi und Hosni Mubaraks letzter Premier, Ahmed Shafik - nicht von sich behaupten, die Massen hinter sich zu haben. Das allein wird, wenn sie klug sind, ihre Politik beeinflussen, die sie jetzt skizzieren müssen, etwa durch die Ansage, wer Vizepräsident wird, oder wie sie zur Verfassungsfrage stehen. Aber vor allem hat keiner der beiden in den zwei wichtigsten urbanen Zentren gewonnen: In Kairo und Alexandria ist der nie als Favorit gehandelte Nasserist Hamdeen Sabbahi Erster geworden, und zwar mit beeindruckenden 34 Prozent. Das heißt, wer auch immer gewinnt, er muss die Städte noch auf seine Seite ziehen, und zwar durch seine Politik. Sonst wird Ägypten nicht zur Ruhe kommen, denn auch die Revolutionen werden in den Städten gemacht.

Sabbahi, der national an dritter Stelle liegt, gibt noch nicht auf. Dass seine Beschwerde wegen Wahlbetrugs bei einer Wahlkommission, gegen deren Entscheidungen man nicht berufen kann - eine "Erfindung" des regierenden Militärrats -, Früchte tragen würde, war nicht zu erwarten: Sie wurde bereits abgelehnt. Aber noch immer prüft das Verfassungsgericht das vom Parlament verabschiedete Gesetz, das Angehörigen des früheren Regimes die Kandidatur verbietet. Wenn Shafik hinausfliegt, kommt Sabbahi hinein. Der Vorschlag von Abdel Moneim Abul Futuh, der Nummer vier bei den Wahlen, dass die Entscheidung fallen sollte, bevor das nächste Mal gewählt wird, ist vernünftig. Wenn ein Wahlsieg Shafiks im Nachhinein für ungültig erklärt wird, ist das geradezu eine Einladung zu einem Militärputsch.

Die Muslimbrüder sind nun die große Herausforderung für jene Ägypter, für die die Kontinuität, die Shafik verkörpert, das Allerschlimmste ist - auch wenn diesem seine Wähler eher wegen seines geschickten "Law and Order"-Wahlkampfs zugelaufen sein mögen. Dass die Muslimbrüder Morsi zugunsten Sabbahis zurückziehen, um zu beweisen, dass sie nicht das ganze Land an sich reißen wollen, ist nicht zu erwarten. Die jetzige Situation könnte aber ihre Kompromissbereitschaft fördern, was die Frage der zukünftigen Verfassung betrifft: Denn dass Ägyptens erste und einzige Identität islamisch ist, kann man nach diesen Präsidentschaftswahlen, die man sogar als Korrektiv der Parlamentswahlen lesen könnte, nicht mehr behaupten. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 29.5.2012)