Zweite Meinung

S.P.E.K.T.A.K.U.L.Ä.R. Anders kann man das nicht formulieren. Hatte uns 2010 das Coupé schon überwältigt mit Flügeltüren, so die offene Version heuer erst recht. Zungeschnalzend sei notiert: Mercedes SLS AMG Roadster. Ganz in unschuldigem Weiß. Ganz und gar Traumwagen. Total ernst zu nehmen nicht nur in seiner ästhetischen Präsenz, sondern auch in seiner sportlichen Potenz. 517 PS zwischen Geboller und Gebrüll, was sich bei Oben-ohne-Fahrt am eindrucksvollsten genießen lässt. Und winters? Nehmen wir das Coupé. Beflügeln tut er uns auch, der Roadster. Und wie! (stock)

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Link: Mercedes

Grafik: DER STANDARD

Das Schlechte an einem so auffälligen Auto wie dem SLS AMG Roadster ist, dass sich jeder danach den Kopf umdreht. Da fällt es gar nicht gleich auf, wenn sich in der schwarzen Limousine, die einmal drängelt und einmal schneidet, ein Mann sitzt, der seinen Dienstausweis um den Hals trägt wie weiland Oma das Bild vom Opa im güldenen Herz.

Erst wenn die schwarze Limousine auffällig blau zu leuchten anfängt und in roten Lettern zum Schwätzchen am nächsten Rastplatz auffordert, dann geht auch einem selbst ein Licht auf.

In 3,8 Sekunden beschleunigt der SLS AMG von 0 auf 100 km/h. Genau so lange dauert es, bis sich rund 50 Schaulustige aus einem Bus auf dem Rastplatz kämpfen und eine Fetzen-Hetz haben.

Da fährt sie vor, die weiße Pracht. Makellos. Pure bewegte Leidenschaft.
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Doch der Herr in Ziviltracht ist weniger an der Geldbörse als vielmehr am Auto interessiert. Das gibt er auch offen zu. Natürlich lässt er seine Kollegin die Papiere kontrollieren, während er Probe sitzt und Fotos für seinen Sohn macht. Machen lässt. Dann Fragen zu Zahlen, Fakten, Daten: 6,2 Liter Hubraum, acht Zylinder in V-Stellung, 571 PS, 650 Newtonmeter, 1620 kg, 239.900 Euro, Verbrauch zwischen zehn und 20 Liter.

Er fährt sich noch atemberaubender, als Karosserie und Daten vorgeben. Präzision ist sein zweiter Vorname. Der Stern lenkt ein, dass man meint, mit einem Skalpell durch die Kurve zu ziehen. Lässig und ganz einfach lässt er sich ums Eck sliden, wenn man die elektronischen Fahrhilfen zügelt. Er ist perfekt abgestimmt, hart, gleichzeitig agil und ganz einfach zu kontrollieren.

Die Perfektion spiegelt sich auch in der Verarbeitung wider. Da passt jedes Spaltmaß, jede Naht im Leder makellos, und die Bedienknöpfe sind genau dort, wo man sie vermutet. So irre es klingt, so wahr ist es. Der SLS AMG hat die schönste A-Säule, die je in einem Auto verbaut wurde. Sie ist von außen wuchtig, weil sie sich aber nach innen – mit Alcantara überzogen – zuspitzt, vom Fahrerplatz aus eine grazile Strebe.

Für Menschen, die gern unbeachtet bleiben, ist der SLS: ganz und gar nicht zu empfehlen.
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Bei diesem Auto einen Makel zu finden ist schwer, zumindest wenn man die Bedieneinheit zwischen Gaspedal und Lenkrad aus Eitelkeit nicht einbezieht. Aber wir werden natürlich fündig. Was fehlt, ist eine ordentliche Handbremse, die man mechanisch über einen Hebel – und nicht elektronisch über einen Taster – bedient. Ach ja, und dann ist da noch der Preis. Der für die Anschaffung, der für den Super Plus, der für die Steuern. Und in der Regel wohl auch für die Strafzettel. Wenn man nicht so brav fährt wie wir. (Guido Gluschitsch, Automobil, DER STANDARD, 25.5.2012)