Jenseits von Stereotypen wie "White Trash": Matthew Porterfields "Putty Hill" beschreibt die sozialen Dynamiken innerhalb einer Lower-Class-Community bei Baltimore.

Foto: Viennale

Zustandsbeschreibungen eines Landes im Zeichen neuer Armut.

Wien - Wenn es ums Kino geht, bekommt der Realismus ein Präfix umgehängt. Ansonsten erschiene der Begriff bei einem Medium, das von jeher eine enge Beziehung zur vorfilmischen Wirklichkeit unterhält, schnell vage. Die Reihe Real America, die anlässlich des Viennale-50-Jahr-Jubiläums im Stadtkino ausgerichtet wird, begnügt sich mit der Betonung des Neuen bei einer Gruppe von US-Filmen, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts einen direkten, unidealisierten, oft dokumentarisch anmutenden Blick auf ihr Heimatland werfen.

"Neo" war der Realismus im Kino freilich schon öfter - und stets hat man darin eine unmittelbare Reaktion auf historische Verwerfungen gesehen, am folgenreichsten in der italienischen Variante, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Eine solche Durchlässigkeit gegenüber der Gegenwart, die sich in einer erhöhten Sensibilität für das soziale Auseinanderdriften und die Prekarisierung unter der Wirtschaftskrise ausdrückt, findet sich auch in den Filmen von Kelly Reichardt, Rahmin Bahrani oder Matt Porterfield, drei der zentralen Autoren von Real America.

So unterschiedlich die Filme im Einzelnen auch sind, eint sie doch ein Interesse an marginalisierten Figuren und Topografien. Wendy and Lucy (2008), Reichardts filigrane Beschreibung der Notlage einer jungen Frau (Michelle Williams), die auf dem Weg zu einem neuen Job hängenbleibt, gilt ein wenig als Schlüsselfilm in diesem Feld. Ohne pädagogischen Nachdruck wird die Kehrseite einer im US-Kino oft emphatisch beschworenen Freiheitsidee beschrieben - sie hat im paranoiden Amerika eines George W. Bush an mehreren Fronten Schaden erlitten.

Auch in Bahranis Filmen geht es um die Wahrheit der Figuren und ihres authentischen Umfelds. Schon in Man Push Cart (2005), in dem der Sohn iranischer Emigranten von einem pakistanischen Rockstar erzählt, der in den Straßen New Yorks Essen verkauft, bestimmt die Wahrnehmungsweise des Helden die lose dramatische Form. Goodbye Solo (2008) erweitert dieses Prinzip der Anteilnahme zum Dialog zwischen einem Taxler aus dem Senegal und einem älteren Mann, der seinem Leben ein Ende setzen will. Bahrani greift auf Elemente von Kiarostamis Der Geschmack der Kirsche zurück, knetet daraus jedoch seine eigene Fabel über die Annäherung zweier Außenseiter mit konträren Auffassungen.

Unvoreingenommenheit

Die Filme des in Baltimore beheimateten Matt Porterfield gehen noch ein Stück weiter in Richtung Dokumentarismus. Sie zeichnen das gebrochene Bild eines Lower-Class-Amerika, das selbst sozialrealistische Erzählweisen hinter sich lässt. Eine neue Unvoreingenommenheit steckt hinter den rauen Bildern von Putty Hill (2010), in dem ähnlich wie in Martha Stevens' Passenger Pigeons (2010) ein überraschend zu Tode Gekommener den Anlass zu einer Milieuerkundung gibt. Bei Stevens' gerade mal für ein paar tausend Dollar finanziertem Film liefern die Black Mountains des krisenumwehten Kohlereviers von Kentucky den Hintergrund für ein Ensemblestück.

Mit einer grotesken, ja schon surrealen Schlagseite nähert sich dagegen Kid-Thing von David Zellner einem Tomboy an, der völlig auf sich allein gestellt in einer anonymen Vorstadt viel anarchischen Unfug treibt. Hier treten bereits jene Grauzonen hervor, in denen der Realismus der präzisen Annäherung an einen der Zuspitzung und Übertreibung grenzt - und damit an die Universen eines Harmony Korine oder David Lynch. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 2./3.6.2012)