Chouette coucou, Chef de la forêt. 2011, Hommage an den waldobersten Geist.

Foto: Fondation Cartier

Der Künstler Jean-Baptiste Jean Joseph.

Foto: Fondation Cartier

Ausstellung Histoires de voir, Show and Tell bis 21. Oktober 2012 in der Fondation Cartier pour l'art contemporain in Paris. www.fondation-cartier.com

Foto: Fondation Cartier

"Ich war in einem Haus, mitten in einem Voodoo-Ritual. Plötzlich begann sich mein Sessel zu bewegen. Ich stand auf, verließ das Ritual. 30 Sekunden später begann die Erde zu beben. Wäre ich drin geblieben, würde ich nicht mehr leben." Jean-Baptiste Jean Joseph, 1964 geborener Künstler aus Haiti, ist überzeugt, dass ihn ein "Esprit Voodoo", ein Geist aus der Voodoo-Welt, vor dem Tod im furchtbaren Erdbeben von Haiti 2010 bewahrt hat. Und findet damit einen weiteren Grund, den Geistern dankbar zu sein.

Denn Ruhm und Einkommen sind ebenfalls den "Esprits" geschuldet. Deren Wirken und Zuständigkeitsbereiche sind die Geschichten, die Jean-Baptiste Jean Joseph in Tapisserien unter Verwendung von Pailletten und Perlen in allen Farben der Karibikinsel verarbeitet. Die naive Kraft der rituellen Textilien bezaubert auch Anderskonfessionelle und hat Jean Joseph vom Produzenten ritueller Gegenstände in den Status des international anerkannten Künstlers befördert. Zunächst kam Interesse aus Amerika. Galerien in Miami und Los Angeles stellten seine Wandteppiche aus. Nun ist er auch in Europa zu sehen.

Bunte Geisterwelt

Die Fondation Cartier zeigt seine bunte Geisterwelt im Rahmen der Ausstellung Histoires de voir, deren Spiritus Rector der Chef der Kunststiftung persönlich ist. Hervé Chandes versammelte Künstler aus Lateinamerika, der Karibik und Asien zu dieser "Seh-Geschichten", denen er auf zum Teil auf Reisen, zum Teil bei früheren Kollaborationen begegnet ist. Volkskunst, Folklore, Souvenir sind die zu diskutierenden Kategorien, die dem Direktor allerdings schnuppe sind. "Das zu qualifizieren überlasse ich den Besuchern und den Kritikern. Wir bieten die Plattform dazu." Solch kuratorische Großzügigkeit bietet Platz für alles und ist als Weltreise mit zufallsgenerierter Route zu werten.

Am relativ längsten hält man sich in Brasilien auf. Etwa bei den kleinen Holztieren von Ronaldo Costa aus dem Bundesstaat Santa Catarina. Die Kleinskulpturen stellen die Tiere des Waldes dar, der den als Bauern und Jäger lebenden Völkern Brasiliens weggeholzt wird. Die Tukans, die Nager und Kriechtiere, die Costa schnitzt und mit Feuer schwärzt, entstanden in diesem Kontext. Bis eines Tages Ausländer ins Dorf kamen, sie sahen und kauften. Der Schnitzer wurde zum Künstler. Der Verkaufsstand für Touristensouvenirs wurde gegen die Galerie getauscht.

Beschränkt auf das Wesentliche

Bei den Yanomami macht man zwei Stationen. Die schamanische Vorstellungswelt des Amazonas-Volks ist der Stoff für die Zeichnungen des 1971 geborenen Joseca. Der Sohn eines Schamanen bringt Rituale und auch ein Stück brasilianischer Lebenswirklichkeit wie den Verlust des Dschungels, das Verschwinden der Tiere, den Untergang einer Lebensart in bunten Farben auf Papier.

Kontrastierend und dennoch aus derselben Wurzel gezogen, sind die reduziert ikonografischen Tuschezeichnungen des 1940 geborenen Taniki, die in ihrer Beschränktheit auf das Wesentliche wie trocken parodierte Betriebsanleitungen für schamanische Rituale zu lesen sind.

Holzmasken und bunte Perlen

Für die bedingungslose Dekoration im Rahmen der von Design-Altspatz Alessandro Mendini gestalteten Ausstellung ist unter anderen der 1978 geborene Mexikaner Gregorio Barrio zuständig. Er bestickt Holzmasken in Gestalt von Menschengesichtern und Leopardenköpfen mit bunten Perlen in folkloristischer Manier, die sich inhaltlich auf den Schamanismus der mexikanischen indigenen Völker beziehen. Frida Kahlo hätte sie vom Fleck weg gekauft.

Für Humor mit Geschichte und Tiefgang sorgt Virgil Ortiz aus New Mexico, geboren 1969 in Cochiti Pueblo, der mit seinen Kleinskulpturen aus Keramik eine Menagerie kreiert, die an Clowns, Außerirdische und Fabelgeschöpfe denken lässt. Tatsächlich setzt er seiner Familie und ihrer Geschichte als fahrende Gaukler und Spaßmacher gegen Bezahlung ein Denkmal. Nicht ohne in winzigen Details auf die Geschichte der Unterdrückung, der prekären Existenz, der Heimatsuche, der Sprachlosigkeit hinzuweisen. Und nicht ohne ein breites Lächeln in Schwarz und Siena bemalter Keramik. (Rondo, DER STANDARD, 15.06.2012)