Fred Koblinger mit Jurypräsident Rob Reilly und Cannes-CEO Philip Thomas.

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Koblinger: "So, wie Unternehmer bei Produkten den Anspruch haben, den Mitbewerber auszustechen, so müssten sie diesen Anspruch auch in der Kommunikation haben. Dieser Anspruch ist nicht da oder unterentwickelt."

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Fred Koblinger, Geschäftsführer von PKP BBDO, war in der Cannes-Jury bei Titanium & Integrated vertreten. "Das Frustrierende ist, dass man jetzt wieder zurück in ein Land geht, wo dieser Lerneffekt in Wahrheit eine Gefahr ist", sagt er im derStandard.at-Interview. "So, wie Unternehmer bei Produkten den Anspruch haben, den Mitbewerber auszustechen, so müssten sie diesen Anspruch auch in der Kommunikation haben." Dieser Anspruch sei in Österreich nicht da oder unterentwickelt.

derStandard.at: DDB-Kreativchef Amir Kassaei teilt derzeit gegen einige Cannes-Juroren aus, "WPP-Juroren bewerten taktisch", sagt er. WPP ist dieses Jahr zur "Holding of the Year" gekürt worden. In "Campaign" wird er so zitiert: "Cannes gilt als Weltmeisterschaft der Werbung, auch wegen der Qualifikation der Juroren. Im Moment habe ich aber nicht das Gefühl, bei einer WM zu sein, weil einige Leute eher Politik machen, anstatt die besten Arbeiten zu beurteilen." Wie unabhängig sind die Juroren in Cannes?

Koblinger: Ihr Journalisten solltet endlich aufhören, dem Amir Kassaei auf den Leim zu gehen. Die einzige Intention, die er hat, ist, zu provozieren und in den Medien vorzukommen. Mir geht das schon auf die Nerven. Ich war jetzt viermal in Cannes in einer Jury und konnte kein einziges Mal irgendein Zeichen der Einflussnahme wahrnehmen.

Auch jetzt in der Titanium-&-Integrated-Jury waren zehn Jurymitglieder dabei, die hochqualifiziert sind. Und es gab Gewinner aus allen Nationen, aus allen Agenturgruppen. Es kann natürlich vorkommen, dass einer blöd ist. Aber in jedem Sportklub, in jedem Verein sind eben zehn Prozent Arschlöcher. In der Jury werden vielleicht auch zehn Prozent Arschlöcher sein. Aber ich fürchte, dass einer bald das größte ist, wenn er so weitermacht. 

derStandard.at: Ihre Jury hat Nike+ Fuelband bei Titanium mit einem Grand Prix ausgezeichnet. Zuvor hatte sie auch schon den Grand Prix bei Cyber gewonnen. Was macht diese Kampagne so herausragend?

Koblinger: Wenn man sich die Arbeit oberflächlich anschaut, würde man sagen, es ist lediglich ein technisches Device, das Sportlern hilft, ihren Kalorienverbrauch, ihre Schritte usw. zu messen und zu beurteilen. Wenn man aber in die Tiefe geht, sieht man, dass es etwas ist, das über den Sport hinausgeht und jedem hilft, der etwas für seinen Körper tut. Dieses Band kann jeder Mensch tragen und sich damit fitnessmäßig verbessern. Man kann sich damit mit anderen messen und hat damit plötzlich ein Ziel. Und dieses Ziel ist ein gesellschaftliches Anliegen, das hier sehr gut aufgegriffen und transportiert wurde. 

derStandard.at: Nike+ habe es mit diesem Produkt geschafft, von einem Produkt- zu einem Serviceunternehmen zu werden, sagen Stefan Olander, Vizepräsident bei Digital Sport Nike und Bob Greenberg von R/GA. Sehen Sie das auch so?

Koblinger: Genau. Ein Service braucht Menschen, braucht Beziehungen. Werbung muss einen Zweck haben. Nämlich Leute zu begeistern, sich mit einer Marke auseinanderzusetzen. Und einen Mehrwert im Alltag der Menschen bringen.

derStandard.at: Apropos Begeisterung. Wie hat der Titanium-&-Integrated-Jury die einzige österreichische Arbeit gefallen, die eingereicht wurde? Ist Orange mit "Kwikki" bei den Juroren in Erinnerung geblieben?

Koblinger: Diese "Kwikki"-Assoziationen mit einem One-Night-Stand sind bei den Juroren überhaupt nicht gut angekommen. Da meint man, das sei witzig, ist es aber nicht. In einer Jury wird so etwas schnell zerzaust. Unter den rund 500 Einreichungen wurde sie von den Juroren sicher unter die letzten 50 gereiht. Die guten Kampagnen werden auch in ihren Märkten als große Kampagnen wahrgenommen. Und "Kwikki" ist an mir in Österreich spurlos vorübergegangen.

derStandard.at: Welche der Titanium-Lions wären für Sie noch als Grand Prix in Frage gekommen?

Koblinger: Schwierig zu sagen. Es sind tolle Ideen dabei, die auf regionaler Ebene wirken, aber eben nicht weltweit. Die Idee aus Kolumbien, "Rivers for Light", zum Beispiel ist eine wunderbare Geschichte, aber kein "Game-Changer". Diese Kampagne verändert die Gesellschaft nicht. Das Fuelband von Nike kann international viel bewirken. Auch die Tsunami-Kampagne "Connecting Lifelines" ist toll, aber ebenfalls regional. Die "Prudential"-Kampagne "Day One" - sie gewann Gold bei Integrated - war im ersten Moment nicht spektakulär kreativ. Aber sie war von diesem tiefen Insight getrieben, wie es Menschen an ihrem ersten Tag ohne Arbeit geht. Man hat den Leuten zugehört, die bei ihrer Pensionierung in ein tiefes Loch fallen. Ich bin jetzt 58 und fürchte mich auch schon vor diesem Tag.

derStandard.at: Ich fand diese Kampagne beeindruckend.

Koblinger: Ist sie auch. Die Frage bleibt aber: Ist sie ein Titanium? Sie macht nichts Neues, nichts Spektakuläres. Ansonsten waren gar nicht so viele Titanium-Ideen dabei. Ich habe mir mehr erwartet. Es waren tolle Apps dabei, aber eben nur Apps. Ich war vor kurzem in der Jury beim Kiew-Advertising-Festival in Odessa. Dort waren durchaus Arbeiten dabei, die hier in Cannes erfolgreich sein können. Sie wurden aber nicht eingereicht, weil das Selbstbewusstsein in diesen Märkten noch nicht so groß ist. 

derStandard.at: Rob Reilly von Crispin Porter + Bogusky saß Ihrer Jury vor. Seine Vorgaben? 

Koblinger: Er hat uns wenig vorgegeben. Für mich persönlich war und ist eine klare Guideline immer wichtig, egal ob in einem Unternehmen oder in einer Jury. Wo wollen wir hin und was soll es sein? Ich hatte hier das Vergnügen, mit neun hochkreativen Menschen gemeinsam in einer Jury zu sitzen. Aber wenn diese Menschen eine Firma führen müssten, würde sie keine drei Monate überleben. Es wurde viel zerredet, schwer Entscheidungen getroffen und diskutiert über Prozesse, auch wenn diese Prozesse bereits abgeschlossen waren.

Für mich war der Jurypräsident menschlich sehr nett, fachlich auch sehr qualifiziert, aber strukturell schwach. Das hat sich auch darin gezeigt, dass wir immer extrem lange gearbeitet haben. Er hat selbst über Prozesse der Abstimmung abstimmen lassen. 

derStandard.at: Sie haben 2005 Ihren Job als Direct-Jurypräsident in Cannes also anders angelegt?

Koblinger: Ich habe sehr klar gesagt, was wir wollen. Jeder soll seine Meinung sagen, und dann wird abgestimmt. Heuer war es so, dass bei jeder Kampagne viel zu lange diskutiert wurde. Danach folgte die Abstimmung, und dann ist unter Garantie wieder jemand gekommen, der neu über die Kampagne diskutieren wollte. Das dauert natürlich doppelt so lange und macht keinen Sinn.

derStandard.at: Würde es Sinn machen, mehr Jurymitglieder zu nominieren, um die Arbeit für den Einzelnen geringer zu halten?

Koblinger: Es geht nicht um mehr Juroren, sondern um mehr Zeit. Wenn noch mehr Arbeiten zu bewerten sind, muss man die Jury vielleicht teilen und darauf vertrauen, dass die guten Kampagnen nach oben kommen. Was mich heuer an der Titanium-&-Integrated-Jury ein wenig gestört hat, war, dass 50 Prozent der Juroren Amerikaner waren. Obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass sie sich patriotisch verhalten haben. 

derStandard.at: Hier in Cannes wurde auch kritisiert, dass Juroren aus dem asiatischen Raum unterrepräsentiert sind.

Koblinger: Das ist schwierig, sie sprechen oft relativ schlecht Englisch und melden sich daher in den Diskussionen wenig zu Wort. 

derStandard.at: In den Jurys sind auch relativ wenige Frauen vertreten.

Koblinger: Weil es in den Spitzenpositionen im Kreativbereich nach wie vor wenige Frauen gibt. Bei uns war auch nur eine Frau in der Jury. 

derStandard.at: Die Titanium-&-Integrated-Jury hat auch den Grand Prix for Good vergeben. Der ging dieses Jahr an die Aktion "Help: I Want to Save a Life" von der US-Agentur Droga 5. Ich hätte hier auf die "Blood Relations"-Kampagne getippt.

Koblinger: Ja, das ist eine tolle Arbeit. Wobei es hier wieder um die Diskussion geht, ob die Kampagne gesellschaftspolitisch etwas verändert, wobei sie das in der Nahostregion sicher gemacht hat. Oder ist die Kampagne etwas Großes, was der Menschheit insgesamt helfen kann? Das ist bei der "Help"-Kampagne eher der Fall. Hier wurde mit einem kleinen, primitiven Mittel, fast schon einem Trick, dafür gesorgt, dass man sich mit der Spendenthematik auseinandersetzt. 

derStandard.at: Ich habe den Eindruck, dass dieses Jahr soziale Kampagnen besonders gut abschnitten und oft vergoldet wurden.

Koblinger: Das kann man bei allen Wettbewerben verfolgen, auch bei uns in Österreich. Das hat einen einfachen Grund: Viele Kunden lassen uns nicht mehr kreativ sein. Die Charity-Unternehmen, die NGOs zahlen uns ja nichts für unsere Arbeit. Aber dafür verlangen wir, dass wir ohne Einschränkungen und ohne "Aber" arbeiten dürfen. Denn mit einem "Ja, aber" bricht oft die halbe Kampagne zusammen. Angst essen Seele auf usw. Bei den Charitys können wir uns austoben. Darum schneiden sie bei den Kreativ-Awards auch oft so gut ab. 

derStandard.at: Ihr Fazit von Cannes 2012?

Koblinger: Man lernt irrsinnig viel. Ich bin wieder etwas gescheiter geworden. Dieser Lerneffekt hat aber positive und negative Seiten. Das Frustrierende ist, dass man jetzt wieder zurück in ein Land geht, wo dieser Lerneffekt in Wahrheit sogar eine Gefahr ist. Wenn man mit diesem Cannes-Anspruch in unseren Tagesalltag zurückkommt, ist man stark frustriert. Weil man viele Dinge nicht auf die Welt bringen kann. Ein Grund dafür ist das Geld. Wenn man heute eine große integrierte Kampagne à la "Prudential" machen will, ist man in Österreich chancenlos. 

derStandard.at: Gegenargument: Die schwedische Twitter-Kampagne - ausgezeichnet mit einem Grand Prix bei Cyber - kommt mit relativ wenig Geld aus.

Koblinger: Ein super Beispiel. Aber können Sie sich vorstellen, dass so eine Kampagne in Österreich umgesetzt wird? Eben. "Ja, aber", würde es bei uns heißen. Das ist die Einstellung, die in Österreich herrscht. Und ich kann dieses "Ja, aber" nicht mehr hören. Ich werde als Jammerer und Schlechtmacher hingestellt, und jedes Mal gibt mir genau Cannes wieder recht. Das eine ist unsere Tagesarbeit, das andere ist dann der Vergleich mit der Welt.

derStandard.at: Wie kann man auch Auftraggeber davon überzeugen, sich etwas zu trauen?

Koblinger: Wer traut sich in Österreich schon etwas? Wir messen uns hier immer nur daran, ob wir schönere Kirschen haben als der Nachbar. Der nächste Ort, die nächste Stadt, das nächste Land interessieren dann schon nicht mehr. Auftraggeber bei uns interessiert es nicht, was in Amerika gemacht wird. Das sei für ihren Markt irrelevant, meinen sie.

Ich habe von Kunden auch schon gehört: Bitte, macht lustige und interessante Werbung, aber allzu sehr auffallen wollen wir nicht. Viele Kollegen sagen, die Österreicher hätten keine Eier oder keinen Mut. Ich finde, es geht nicht um Mut. Es geht um einen Anspruch. Und dieser Anspruch fehlt mir, nicht der Mut. So, wie Unternehmer bei Produkten den Anspruch haben, den Mitbewerber auszustechen, so müssten sie diesen Anspruch auch in der Kommunikation haben. Dieser Anspruch ist nicht da oder unterentwickelt.

Was bringt also diese Bereicherung durch Cannes für mich? In den nächsten Monaten ist der Frust wieder doppelt so groß, bis man sich wieder an das österreichische Muster gewöhnt hat. (Astrid Ebenführer, derStandard.at, 25.6.2012)