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Ohne Felge kein Rad, ohne Rad keine Fortbewegung. Hier ist die Felgenwerdung in den 1970er-Jahren in der Budd Company (Michigan) zu sehen.

Foto: Hulton-Deutsch Collection / Corbis

Das Rad, jenes Ding, ohne das Maschinenbau nicht möglich wäre, ist eine der ganz wenigen Erfindungen des Menschen, die auf kein Vorbild in der Natur zurückgeht. Und zwar aus einem ganz simplen Grund: Die verlässliche Versorgung mit Nährstoffen erlaubt es nicht, dass sich etwas mit hoher Geschwindigkeit um die eigene Achse dreht. Andererseits: Das Rad ist genau jenes Ding, das technischen Geräten erst ihre Beweglichkeit verleiht. Paradox: Just das, was es in der Biologie nicht gibt, ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass auch leblose Sachen gewissermaßen zum Leben erweckt, jedenfalls kontrolliert in Bewegung gesetzt werden können. Der Mensch unterscheidet sich also vor allem durch das Rad vom Affen, könnte man sagen.

So ist das Rad auch das Kernstück eines jeden Fahrzeugs, egal ob ein-, zwei-, drei- oder vierrädrig. Und noch viel mehr: Das Rad stellt geradezu das zentrale Element im Automobildesign dar. Egal, um welches Fahrzeug es sich handelt, die ersten Entwürfe enthalten immer riesengroße Räder. Erst die nähere Überprüfung der Praktikabilität lässt sie dann schrumpfen, mitunter zu ziemlich kleinen Wuzeln. Räder, möglichst groß und möglichst breit, das ist immer die Ausgangsposition. Wie ein evolutionäres Prinzip zieht sich dies durch die jüngere Automobilgeschichte. Das Rad als Schlüsselelement, um Kraft und Herrlichkeit auszudrücken. Physikalisch durchaus begründbar: Je größer Durchmesser und Auflagefläche, umso größere Drehmomente lassen sich auch übertragen.

Das evolutionäre Prinzip der Dominanz trifft wohl auch hier weit jenseits biologischer Logik zu: Je größer der Schwanz des Schwalberichs, umso leichter wählt ihn eine Schwälbin zur Fortpflanzung aus. Heißt aufs Auto übertragen: Je prunkvoller die Räder, umso stolzer fühlt sich der Gockel, der im Auto sitzt. Nur irgendwann einmal kann die Schwalbe vor lauter Schwanz nicht mehr fliegen und das Rad sich nicht mehr drehen.

Kraft und Überlegenheit

Unzählige Argumente werden herangezogen, um die rational unerklärlich große Verbreitung von Autobahngeländewagen zu beschreiben, von Gegnern wie auch von jenen, die sich damit für sehr viel Geld einen langgehegten Wunsch erfüllen. Die einen sprechen vom besseren Überblick, die anderen von höherer Sicherheit, und wieder andere bezichtigen deren Besitzer der Neigung zur Gewalttätigkeit. Doch die Wahrheit ist vielleicht ganz banal. Sports Utility Vehicles sind so beliebt, weil sie so große Räder haben!

Das Rad in der Biologie funktioniert also nicht, in technischer und psychologischer Hinsicht glänzt es hingegen gleich mit doppelter Bedeutung: Triebkraft! Wie schon erwähnt, ist ein möglichst großer Durchmesser der Übertragung von höherer Leistung und also Potenz dienlich. Aber nicht nur das: Auch größere Bremsen finden darunter Platz. Diesem Prinzip von Kraft und Überlegenheit ist es auch zu verdanken, dass sich die billigen Einstiegsmodelle von ihren oft mehr als doppelt so teueren Herrlichkeitsvarianten vorwiegend durch die Größe und Art ihrer Räder unterscheiden, jedenfalls äußerlich. Oder andersrum: Man sollte doch von weitem sehen, wenn jemandes Liebe zum Auto endlich ist, indem unscheinbares Räderwerk das Auto schmalhüftig dastehen lässt.

Leichtmetall oder Stahl

So wurde die Leichtmetallfelge im Lauf der vergangenen Jahrzehnte zum Schlüsselelement der sogenannten Individualisierung, also jenem Akt, der aus dem Massenprodukt Automobil im Drehmomentschlüsselumdrehen ein Einzelstück machen soll. Wie immer beim emotionalen Zugang zu einem technischen Objekt müssen rationale Gründe vorgehalten werden, um sich vor der Gesellschaft logisch zu erklären und die Emotionen dabei erst so richtig in Gang zu bringen. "Ungefederte Massen!", so lautet die Kernbotschaft des technokratischen Hintergrunds, der in den Vordergrund gedrückt wird.

Die Wahrheit ist: Funktional unterschiedet sich eine Leichtmetallfelge kaum von einer Stahlfelge, außer dass sie leichter beschädigt wird und schwieriger oder meist gar nicht zu reparieren ist. Aber in einem ist die Leichtmetallfelge unschlagbar: Sie glänzt besser. Und sie lässt sich zu den barockesten Formen gießen oder schmieden, die man naturgemäß nicht einmal mehr sieht, sobald das Rad seiner eigentlichen Funktion zugeführt wird, der Drehung.

Sich drehendes Schmerzzentrum

Das hübsche Rad am Wagen kann auch zum Zentrum größten Schmerzes werden, dann nämlich, wenn es einen Kratzer abkriegt. Für den Liebhaber des Automobils bildet ein schönes Rad mitunter folglich auch das Schmerzzentrum, was nur logisch ist, da der Schmerz auch im wahren Leben ein Zwilling der Liebe ist. Einerseits kämpft das Rad an vorderster Front um die Fortbewegung des Vehikels, ist Krieger, indem es sich den widerlichsten Fahrbahnbedingungen stellen, nein rollen muss, gleichzeitig soll es schön sein wie die Geliebte. Da sind Konflikte programmiert.

Die schönsten Räder lassen sich mit der kleinsten Unachtsamkeit an einer lächerlichen Randbegrenzung ... Bevor wir in sadomasochistisches Terrain abgleiten, sei noch schnell gesagt: Der wahre gute Autofahrer ist nicht der schnelle, sondern jener, dessen Räder sich noch nach Jahren völlig unbeschädigt drehen. (Rudolf Skarics, DER STANDARD, 29.6.2012)