Träumt im Roman von einem friedlichen Zwitterwesen: Sibylle Berg.

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Wien - In "Vielen Dank für das Leben" durchlebt ein friedfertiges Zwittergeschöpf namens Toto die Wechselfälle der jüngsten Geschichte. Das Kind der maroden DDR übersiedelt in den Westen. Toto wird Zeuge des Endes der Konsumgesellschaft. Sibylle Berg schildert in ihrem Bildungs- und Entwicklungsroman, der Ende des Monats bei Hanser erscheint, auf 400 Seiten den Niedergang unserer Lebensform.

STANDARD: Inwieweit gehen der Niederschrift eines großen Romans wie des Ihren umfangreiche Planungen voraus?

Berg: Das Thema wächst während Monaten. In dieser Zeit liegt neben meinem Bett ein Heft, das ich mit Sätzen und Ideen fülle. Wenn das Heftchen voll ist, fange ich an. Ich weiß das Thema, die Stimmung, Anfang und Ende, eine Konstruktion gibt es nicht. Anfänge sind überhaupt nichts Schlimmes. Kommt die Rede auf den berühmten "ersten Satz", dann finde ich immer: Was macht ihr für ein Theater darum, den kann man ja streichen, wenn er schlecht ist! Ich weiß lediglich: Wo fange ich an, und wo höre ich auf.

STANDARD: Sie reisen schreiberisch mit "leichtem Gepäck"?

Berg: Es mag sein, dass in meinem Heftchen Unglaubliches steht. Das Weltwissen. Ich lese es nur nicht mehr. Ohne Heftchen geht es aber auch nicht.

STANDARD: Ihre Hauptfigur Toto durchlebt die ganze Schlechtigkeit der Welt. Er tut viel Gutes, redet aber nicht darüber.

Berg: Toto steht eigentlich für alle Geknechteten. Ich wollte ein Denkmal schaffen für die Außenseiter dieser Welt. Toto ist ein Intersexueller, weil ich damit eine Geschlechtszuschreibung vermeide. Er symbolisiert alle, die danebenstehen - oder sich als danebenstehend empfinden. Das bleibt sich gleich.

STANDARD: Sie meinen: Er tut nichts, was sich auf dem Markt "verwerten" ließe?

Berg: Das ist natürlich zu wenig für die Welt. Jemanden zu beschreiben, der sich durch vollkommene Passivität auszeichnet: Da muss man ganz schön die Finger beieinanderhalten. Toto leidet nicht darunter, kein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein, auch nicht darunter, keinen Sinn gefunden zu haben. Der Romantitel ist nicht zynisch gemeint, sondern Toto empfindet so. Wir sind ja alle so wahnsinnig dahinter, unserem kleinen Dasein einen Sinn zu unterlegen. Das geht meistens schief, weil wir dem großen Sinn, dem beeindruckenden Überbau nicht gerecht werden. Toto ist der Entwurf eines perfekten Menschen! Es wäre doch schön, wenn alle so freundlich durchs Leben tapsen wollten, ohne andere zu belästigen. Ich hätte gerne solche Menschen um mich: freundlich, mit einem guten Humor. Er tut keinem was, hilft Leuten und ist frei von jeder Gier.

STANDARD: Sie haben mit Ihrem Roman, mit Blick auf unser Zusammenleben, alle wesentlichen Fragen gelöst?

Berg: Mit diesem Buch habe ich alle wesentlichen Probleme gelöst, ja. Wir können jetzt eigentlich aufhören.

STANDARD: Aber sind Sie dafür zeitdiagnostisch nicht viel zu wütend?

Berg: Ich hätte gerne 800 Seiten gemacht. Wir erleben unsere je eigene Lebensspanne auch nicht als Geschichtsschreibung, sondern wir bringen jeden Tag mühsam zu Ende, und irgendwann werden wir Teil der Geschichte sein. Mein ehrgeiziger Plan war es, einen Zeitabriss zu liefern, aus meiner Perspektive: Was war der Osten, was der Westen, was könnte noch kommen?

STANDARD: Sie schreiben an einer Stelle: "Es gibt kein Recht auf nichts in der real existierenden Evolution ..."

Berg: Das klingt doch toll, oder? Das will man doch nicht noch erklären müssen. Evolution ist eigentlich nur die Auslese. Irgendwo schreibe ich, dass es auffällig wenige Gebrechen im Stadtbild zu sehen gibt. Man sieht kaum mehr verfaulte Zähne, Menschen, die im Wägelchen losrollen, kaum Behinderte und schlecht Ernährte. Ich meine Evolution im rückgewandten Sinne: Irgendwann tauchen die wieder auf. Wenn der Kapitalismus in seiner jetzt real existierenden Form seinen Zenit überschritten hat, wird sich das Stadtbild wieder verändern.

STANDARD: Ist das nicht längst passiert?

Berg: Ich lebe in meiner Kapsel in der Schweiz. Dort ist die Krise noch nicht angekommen.

STANDARD: Sie sind aber bekennende Zürich-Liebhaberin?

Berg: Diese Stadt war vor 16 Jahren eine Notwendigkeit für meine Arbeit geworden. Sie hatte dieselbe Sanatoriumsgeschwindigkeit wie ich. Die Schweiz war einfach sehr langsam. Inzwischen bin ich aber zu arm für das Land geworden. Man tut sich nur schwer, die Heimat zu verlassen. Ich hocke in Zürich mit meinen Sozialkontakten und Bäckereigeschäften und merke nur: Oh, alles wird immer teurer! Mir fällt bloß kein anderer Platz ein. In Zürich gibt es immer weniger zu beschreiben, es ist alles so künstlich: eine "gated community". Ich muss weggehen, um normalen Menschen beim normalen Leben zuzuschauen.

STANDARD: Ihre Wut als Zeitdiagnostikerin ist nicht abgekühlt? Ist Ekel eine Produktivkraft?

Berg: Ekel entsteht durch den Tunnelblick, den man einstellen kann. Man konzentriert sich dann auf die faltigen Hälse, die gierigen Augen. Das ist etwas, was man im Kopf herstellen und auch abschalten kann. Wenn ich spüre, ich fange an zu keifen, konzentriere ich mich auf die netten Omas, die vor ihrem Haus sitzen. Das ist eine Übung, um nicht irgendwo als spuckender Tourette-Zausel zu sitzen. Tourette gab es früher gar nicht. Heute füttert man Kinder, die zappelig sind, mit Retalin voll. Früher gab es das "stille Kind" und das "zappelige Kind". Heute wird alles durchmedikamentiert und stromlinienförmig. Wir werden zu guten kapitalistischen Befehlsempfängern ausgebildet.

STANDARD: Die Gleichberechtigungsfrage treibt Sie nicht um?

Berg: Die gerechte Welt wäre diejenige, in der alle gleichberechtigt armselig sein dürfen. Davon sind wir weit entfernt. Frauen, Homosexuelle, Behinderte - das alles bildet ein großes Gefälle, in dem die Mächtigen auf andere herunterschauen. Blöd sind alle, da dürfen wir uns nichts vormachen. Frauen haben einfach nur noch nicht die Chance eingeräumt bekommen, genauso doof zu sein. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 12.7.2012)