"Es gibt keinen beschäftigungswirksameren Einsatz von öffentlichen Mittel als in Form von sozialen Dienstleistungen," meint Sybille Pirklbauer. 

Foto: Liesi Specht

Während die europäischen Staats- und RegierungschefInnen von einem Euro-Krisengipfel zum nächsten fahren, wird mit sehr viel geringerer Begleitmusik bereits das EU-Budget 2014-2020 ausverhandelt. Wie die konkrete Mittelverteilung von 2014 bis 2020 aussehen wird, entscheidet sich über den Sommer und wird im Herbst beschlossen. Die Strukturförderungen im Rahmen dieses Budgets sind deshalb wichtig, weil sie den rechtlichen und politischen Rahmen vorgeben, der auf nationaler Ebene durch die konkreten Programme umgesetzt wird.

Ein Beispiel dafür bietet ein Blick auf die laufende Budgetperiode: Der Regionalfonds und der Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung verfügen, im Vergleich zum Sozialfonds, über beträchtliche Mittel. Die Mittel der beiden hoch dotierten Fonds wurden in Österreich bislang fast ausschließlich für die Förderung von Unternehmen und der Landwirtschaft verwendet.

Die Arbeiterkammer (AK) fordert, dass die EU dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung trägt und Mittel aus der landwirtschaftlichen Förderung in den Sozialfonds umschichtet. Zudem sollen aus dem Strukturfonds Mittel für soziale Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden. Das ist rechtlich möglich, aber kein Muss, erklärt Sybille Pirklbauer, Mitarbeiterin der AK-Abteilung für Frauen und Familie, im Interview mit dieStandard.at. Die Politikwissenschaftlerin meint, dass die europäische Förderungsstruktur einer Reform bedarf und dadurch Frauen von ihren Betreuungspflichten entlasten könnte.

dieStandard.at: Die Arbeiterkammer fordert im Rahmen der EU-Budgetverteilung 2014-2020 eine Verlagerung vom landwirtschaftlichen Förderungsfonds hin zum EU-Sozialfonds. In Anbetracht der wirtschaftspolitischen Entwicklungen innerhalb Europas: Wie realistisch schätzen Sie diese Umverteilung ein?

Pirklbauer: Grundsätzlich steht Europa vor einer enormen Arbeitslosigkeit. Das ist eines der drängendsten Probleme, die wir derzeit haben. Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und für mehr Beschäftigung zu sorgen muss das Anliegen der Arbeiterkammer sein. Dass der Sozialfonds, der innerhalb Europas für Beschäftigungspolitik fungiert, im Zuge des neuen Budgets eine starke Rolle bekommen muss, ist daher klar.

Zudem haben wir in Europa eine sinkende Beschäftigungszahl innerhalb der Landwirtschaft zu verzeichnen. In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil der LandwirtInnen um 25 Prozent gesunken. Immer weniger Menschen bestreiten also ihr Fortkommen mit landwirtschaftlichen Einnahmen, und damit steigt natürlich die Pro-Kopf-Förderung. Aus unserer Sicht lässt sich das nur sehr schwer argumentieren.

dieStandard.at: Auf der anderen Seite ist die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen, etwa Pflege und Kinderbetreuung, gestiegen.

Pirklbauer: Ja, der Bedarf an sozialen Dienstleistungen nimmt in allen Bevölkerungsgruppen zu. Pflege oder Kinderbetreuung ist nicht nur für ArbeitnehmerInnen relevant, sondern natürlich auch für Selbstständige - ob sie in der Landwirtschaft oder in anderen Branchen tätig sind: Alle möchten, dass ihre Kinder gut betreut oder kranke Menschen gut versorgt sind. Besonders für den ländlichen Raum ist der Ausbau sozialer Dienstleistungen extrem wichtig.

dieStandard.at: Wie kommt es dann zu dieser Förderungsdiskrepanz?

Pirklbauer: Historisch betrachtet war die Landwirtschaft die erste große budgetäre Zuständigkeit der EU. Daraus ist auch die Bedeutung der Landwirtschaftsförderung gewachsen. Andere Bereiche sind erst später hinzugekommen. Man kann also von einer Tradition sprechen. Aber wie es so ist mit Traditionen: Man muss sich diese anschauen und fragen, ob sie den heutigen Anforderungen noch entsprechen oder ob es Veränderungen braucht.

Es geht nicht darum, die Landwirtschaftsförderung abzuschaffen - davon spricht keiner -, aber die Verteilung und die Schwerpunktsetzung auf die Landwirtschaftsförderung müssen einer kritischen Beleuchtung und einer Veränderung unterzogen werden.

dieStandard.at: Welche zentralen Elemente sollen im EU-Budget Ihrer Ansicht nach besonders berücksichtigt werden?

Pirklbauer: Die ganz große Überschrift ist Beschäftigung. Die Zielsetzung von Europa 2020 ist eine europaweite Beschäftigungsquote von 75 Prozent bis zum Jahr 2020. Das wird nur gehen, wenn auch Frauen mit eingeschlossen werden. Soziale Dienstleistungen haben dabei einen Mehrfach-Benefit: Pflege, Bildung, Kinderbetreuung schaffen extrem viele Arbeitsplätze. Es gibt keinen beschäftigungswirksameren Einsatz von öffentlichen Mittel als in Form von sozialen Dienstleistungen. Es würde außerdem Frauen mit Betreuungspflichten ermöglichen, am Arbeitsmarkt überhaupt erst aktiv zu werden, was sie mit Betreuungspflicht ja nicht sind.

In Österreich wie auch in den südlichen Ländern Europas ist dieser Beschäftigungszweig noch bei weitem nicht so ausgebaut, wie sich viele Eltern das wünschen würden. Zudem mangelt es an Bildungsangeboten für Jugendliche und Menschen mit migrantischem Hintergrund. Zentral ist auch die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Und das sind ja alles Dinge, die kein Hobby sind, das man sich leistet, sondern das sind Dinge, die wirklich gebraucht und nachgefragt werden.

dieStandard.at: Um das zu finanzieren, fordern Sie also zusätzliche Gelder aus dem Regionalfonds?

Pirklbauer: Grundsätzlich hätten wir sehr gerne Mittel sowohl aus dem Regionalfonds als auch aus dem Fonds für ländliche Entwicklung für den Ausbau sozialer Dienstleistungen zur Verfügung. Die Verordnungsentwürfe sind aber noch nicht beschlossen und grundsätzlich sehen sie auch vor, Gelder für soziale Dienstleistungen einzusetzen. Die Frage ist, ob man es auch tut. Man kann, aber man muss nicht. Wir sind der Meinung, dass man diese Möglichkeit unbedingt nutzen muss, weil es auch den Interessen der Wirtschaft zugutekommt.

dieStandard.at: Insgesamt erweckt ihr Plan den Eindruck, als würde die AK mit ihren Forderungen die EU an ihre eigens kreierten Instrumente wie Gender-Mainstreaming und Gender-Budgeting erinnern.

Pirklbauer: Dass sowohl im Regionalfonds als auch im Fonds für ländliche Entwicklung darauf kaum Bezug genommen wird, sehen wir auch kritisch. Wir sehen die sozialen Dienstleistungen aber nicht als Produkt einer Gender-Mainstreaming-Strategie, sondern finden es aus wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Überlegung extrem sinnvoll. Aber es gibt bezüglich Gender-Mainstreaming und -Budgeting einen Mangel. Wir sehen das problematisch, dass nicht alle Maßnahmen im Strukturfonds auf ihre Gender-Wirkung hin analysiert werden. Im Vergleich zu den letzten Budgetperioden hat es Rückschritte in der Verankerung der Gender-Dimension gegeben.

dieStandard.at: In den Strategiepapieren der EU, etwa im Lissabon-Vertrag oder auch im Europa-2020-Papier, ist die Rede davon, die Bevölkerung stärker in Entscheidungen einzubinden. Ideen oder Vorschläge dafür gibt es aber keine. Ist das leere EU-Rhetorik?

Pirklbauer: Auf der Ebene der Strukturfonds gibt es ein konkretes Element, wo diese Beteiligung vorgesehen ist: Fünf Prozent der Mittel von jedem EU-Programm müssen für Maßnahmen eingesetzt werden, die von der lokalen Bevölkerung entwickelt werden. Ein Bottom-up-Prinzip, das in der österreichischen Förderlandschaft nichts Vergleichbares findet. Das ist eine Form der Entscheidungseinbindung, die nicht unspannend ist, aber in einem sehr eingeschränkten Segment. Klar ist, dass die Entscheidungskultur innerhalb der EU sehr komplex ist. Ich glaube schon, dass deutlich zu sehen ist, dass da etwas passieren muss. (Sandra Ernst Kaiser, dieStandard.at, 15.7.2012)