Bild nicht mehr verfügbar.

Bruce Springsteen am 25. Juni 2003 während seines Konzerts im Rahmen der "The Rising"-Tour im Wiener Ernst-Happel-Stadion

Foto: APA/Techt

Bruce Springsteen und seine gute alte E Street Band zeigten im Wiener Ernst-Happel-Stadion über drei Stunden lang, dass auch Konzerte mit Kirtag-Charakter ausgezeichnet funktionieren können. 45.000 nostalgisch gestimmte Besucher waren zu Recht völlig aus dem Häuschen.

Wien – Bruce Springsteens Musik ist derart amerikanisch, dass sie eigentlich nur funktioniert, wenn man schon einen Führerschein hat. Und wenn man sich dann auf dem Heimweg vom Konzert im japanischen Mittelklasse-Elend beim Hören einer alten Liveplatte aus den 80ern vorstellt, dass unter der Haube tausend Kubik mehr wohnen und der Motor Probleme mit dem Saufen hat, dann wird klar: 45.000 Besucher waren zuvor ins Ernst-Happel-Stadion gekommen, um zu entkommen.

Born To Run, Thunder Road, Badlands, drei seiner auch hier wieder euphorisch bejubelten Klassiker, leben vor allem von diesem Fluchtgedanken. Weg aus dem Elend, das sie Alltag nennen! Rock 'n' Roll rennt und rettet bekanntlich, aber vor allem flüchtet er auch. Die Idee des Eskapismus liegt möglicherweise im lebenslangen kindlichen Bestreben begründet, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Wenn daheim alles in Scherben liegt, findet man hinter dem Horizont allemal etwas Besseres als den Tod.

Aus dem Weg!

Freiheit als Verantwortungslosigkeit bei maximalem Treibstoffverbrauch, für die gesamte westliche Welt noch immer mythologisch-bindend. Bruce Springsteen wird das gegen Ende des Konzerts mit einer Kopplung des alten Chuck-Berry-Haderns Roll Over Beethoven mit Born To Run ausführlich erläutern: Aus dem Weg, ihr alten Säcke – bin schon wieder weg!

Altersbedingt ist man zwar von sportlichem Super auf familienfreundlichen Diesel umgestiegen. Immerhin steht hier mit der E Street Band eine Partie auf der Bühne, die sich seit Jugendtagen kennt und sich nichts mehr vormachen muss. Andererseits ist das monatelange Herunterspulen von ungefähr jeden Abend gleich ausgewählten Liedern bei drei Stunden Konzertdauer wahrscheinlich so spannend wie das Fahren mit Automatikgetriebe auf der Autobahn Richtung Eisenstadt.

Das führt unter anderem bei Mary's Place und seinen länglichen Gitarrensoli und immergleichen Saxofon-Exkursionen, aber auch bei Born To Run selbst zu weiträumigen Umleitungen zwecks Steigerung des Interesses. Weil das Ganze aber streng ironiefrei und bestens gelaunt in sensationell gutem Sound von der Bühne kommt, geht das bei Springsteen trotzdem durch.

Das Format des Stadionkonzerts wurde zwar von anderen erfunden. Stichwort: Man hört selbst mit den Augen nichts, auch wenn man ganz genau hinschaut. Stichwort: Rolling Stones und ihr schauderhafter Auftritt vor einer Woche an selber Stelle. Bruce Springsteen stellt aber klar, dass er seit über 20 Jahren der alleinige Meister dieses Fachs ist.

Konzerte von Bruce Springsteen dienen ganz offen und deshalb auch so begeisternd der kurzfristigen Befriedigung eines allseits beliebten Wunschtraums – einmal vom Zigarettenholen nicht mehr heimkommen! Dancing In The Dark am Ende, zuvor The Promised Land, Land Of Hope And Dreams, The River, Out In The Streets und eine leider wegen Publikumsinteraktion etwas verhaute Interpretation der neuen US-Nationalhymne, Waitin' On A Sunny Day: Einmal volltanken noch heute Nacht, dann sind wir auch schon da! Egal wo. Hauptsache dort und nicht hier.

Was leider gar nicht zur alten Aufbruchstimmung passen mag, sind die zwischengeschobenen Songs des neuen Albums The Rising. Auf dem trauert Springsteen oft vom eigenen Pathos zu sehr ergriffen in Moll-Akkorden rund um die 9/11-Thematik herum (Empty Sky, Lonesome Day). Und er ringt sich auch live am alten Problemthema Patriotismus ab: Der Song The Rising selbst, aber auch Into The Fire. Born In The USA wird trotz heftiger Publikumseinforderung nicht gegeben.

Nach all den Jahren hat der Familienvater aus Freehold, New Jersey, offensichtlich seinen Frieden mit jenen Verhältnissen gemacht, aus denen er kommt: "Devil's on the horizon line!" Immer schön zu Hause bleiben. Friede den Kleinstädten! Sollen doch die Jungen auf die Jagd gehen. Wir bleiben lieber zu Hause, genehmigen uns ein Bierchen und reden über die guten alten Zeiten: Glory Days.

Das ärgert uns unten, die wir uns extra ein paar Stunden zum Flüchten freigenommen haben, dann schon ein bisschen. Hier enttäuscht ein ansonsten großer Abend. Niemand will hören, dass es daheim eigentlich doch am Schönsten ist. Doch nicht heute! Sentimentalität ist ein schlechter Fluchtpunkt. Der Horizont ist besser. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.6.2003)