"Das Thema der Diskrepanz zwischen Sein und Schein ist mir wichtig, ich versuche zu zeigen, was sich hinter den Lebensfassaden geachteter Bürger abspielen kann und wie Personen durch die sozialen Bollwerke von Geld und Prestige geschützt werden": Lilian Faschinger.

Foto: Marko Lipus

Nach zwei Wien-Romanen ("Stadt der Verlierer", 2007, "Wiener Passion", 1999) und einem Erzählband mit "acht Pariser Episoden" ("Paarweise", 2002) schickt Lilian Faschinger in ihrem neuen Roman "Die Unzertrennlichen" (Zsolnay) ihre Icherzählerin, die in Wien lebende Sissi Fux, in die Südsteiermark.

Anlass der Reise ist die Beerdigung ihres Vaters. Die zeitweilige Rückkehr an den Kindheitsort entwickelt sich für die Erzählerin zur Suche nach den Spuren der dort lebenden Freundin Regina, die während eines Urlaubs mit ihrem Gatten Stefan auf Procida im Golf von Neapel unter nie geklärten Umständen verschwand. Die offizielle Version lautet, sie sei ertrunken, die Leiche wurde allerdings nie gefunden.

Wie schon in "Stadt der Verlierer" spielt die 1950 geborene Autorin, die nach einigen Jahren in Paris nach Wien zurückgekehrt ist, mit Versatzstücken des Kriminalromans. Wobei Faschinger an dieses Genre gestellte Erwartungshaltungen mit Lakonie und Humor permanent unterläuft.

STANDARD: Sie haben lang an Ihrem neuen Roman gearbeitet und sich mit dem Buch nicht leichtgetan, wie sie vor zwei Jahren bei einer Lesung sagten. Was waren die Schwierigkeiten?

Lilian Faschinger: Die Probleme, die ich beim Schreiben dieses Romans hatte, waren weniger literarischer als privater Natur: Der Tod meines Vaters vor fünf Jahren stürzte mich in eine Krise, ich konnte längere Zeit nicht schreiben, auch fühlte ich mich eingeschlossen in meiner damaligen, für das Denken und Schreiben ungünstigen Wohnung, fand aber keine neue - interessanterweise erst, als ich "Die Unzertrennlichen" beendet hatte, was, jedenfalls für mich, beweist, dass fiktionale Literatur sehr konkrete Folgen haben kann.

Der Roman hat, allerdings in verkleideter, indirekter Form, mit dem Tod des Vaters und mit meiner Familie zu tun, die Beerdigung am Anfang des Buches spielt auf das Begräbnis meines Vaters an. Im Grunde geht es um mein Heimatdorf in Kärnten, aber ich habe den Schauplatz in die Südsteiermark verlegt, um mehr Distanz zu den ursprünglichen Verhältnissen zu gewinnen. Über die beiden Figuren Sissi Fux und Emma Novak schließt der Roman schließt aber auch lose an "Stadt der Verlierer an".

STANDARD: Im Gegensatz zum Vater, der nicht die Kraft hatte, den kleinen Ort zu verlassen, ist Sissi, die Tochter, weggegangen.

Faschinger: Ja, Sissis Vater ist durch Alkohol und das Realitätssurrogat der Rockmusik, durch seine parasitäre Mutter und den ihn abwertenden Nazivater viel zu geschwächt, um sich noch zum Weggehen aufraffen zu können. Sissi aus der folgenden Generation ist dazu fähig. Sie begründet ihr Weggehen unter anderem damit, dass Umstände und Menschen ihr das Leben in ihrem Geburtsort unerträglich gemacht hätten; sie habe sich ihre Heimat stehlen lassen, sagt sie. Für fast alle meine Hauptfiguren, in der Mehrzahl Frauen, ist der Ort ihrer Herkunft nicht der geeignete Platz zum Leben, ja, schlimmer noch - im Buch heißt es: "Nicht die Fremde war das Gefährliche, es war die Heimat."

STANDARD: Neben Fremdenfeindlichkeit, einer geschlossenen Gesellschaft und Selbstgerechtigkeit geht es in Ihrem Roman auch um die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, die etwas mit dem Verschwinden von Sissis bester Freundin zu tun hat. Am Ende wird der "Fall" zwar aufgeklärt, und wie schon der Roman "Stadt der Verlierer" spielt auch "Die Unzertrennlichen" mit Krimi-Elementen. Das Erstaunliche ist nun, dass weder das Whodunit im Vordergrund steht, noch sonderlich viel psychologisiert oder moralisiert wird.

Faschinger: Möglicherweise hinterfragen Menschen, die an kleinen Orten wie dem Dorf im Sausal in ländlicher Abgeschiedenheit oder an einer nach außen hin durch das Meer abgeschlossenen Insel wie Procida leben, ihre Existenz wenig, weil es kaum Berührungspunkte mit anderen Lebensentwürfen gibt. Dies führt zur Entwicklung von Abwehrhaltungen wie den von Ihnen genannten.

Das Thema der Diskrepanz zwischen Sein und Schein ist mir wichtig, ich versuche zu zeigen, was sich hinter den Lebensfassaden geachteter Bürger abspielen kann und wie Personen durch die sozialen Bollwerke von Geld und Prestige geschützt werden, auch wenn sie das Gesetz in drastischer Weise, im Extremfall durch Mord, übertreten.

"Die Unzertrennlichen" ist am ehesten von all meinen Romanen und sicherlich stärker als "Stadt der Verlierer" eine Kriminalgeschichte - die genauen Ermittlungsmethoden interessieren mich allerdings weniger, die Psyche der Figuren steht im Vordergrund, vor allem ihr "tragic flaw", also ihre größte Schwäche, diejenige, welche sie zu Fall bringt. Bei Stefan König ist dies die selbstherrliche Überzeugung, durch seine Stellung als Arzt unangreifbar zu sein, bei Regina König ihre weibliche Arroganz zu glauben, dass jeder Mann ihr mit Haut und Haar verfällt.

STANDARD: Der Anfang des Romans trägt Züge eines Vater-Buches. Der Vater ist mehr ein an seinen Träumen zerbrochener Mensch als eine gescheiterte Existenz. Auf einer weiteren Ebene geht es aber um das Verhältnis zwischen Frau und Mann - und zwischen Frau und Frau.

Faschinger: Sissi ist im Grunde eine Waise: Die Mutter, Brasilianerin, lässt sie im Stich und geht zurück in ihre Heimat, der Vater ist Alkoholiker, ein schwacher Mensch, der sich Illusionen hingibt, zum Einsiedler wird und seiner Tochter keine Stütze ist - im Gegenteil, sie ist es, die ihm Beistand leisten muss; er versucht sie ja sogar in seinen Alkoholismus hineinzuziehen. Die Großmutter ist ebenso bösartig wie jene aus Horvaths "Geschichten aus dem Wiener Wald", dennoch hätte Sissi ohne ihre Hilfe wohl nicht überlebt; der Großvater ist ein alter Nazi, der sich der Wirklichkeit durch eine Art Narkolepsie entzieht.

Der Roman ist eine Dreiecksgeschichte, allerdings geht es hier um ein aus zwei Frauen und einem Mann bestehendes Dreieck und nicht, wie in "Stadt der Verlierer", um zwei Männer und eine Frau. In "Stadt der Verlierer" ist Geschwisterrivalität ein wichtiges Thema, wogegen ich in dem neuen Buch auf das ursprüngliche Dreieck Vater-Mutter-Kind, verschoben zum Dreieck Stefan-Regina-Sissi, zurückgehe und diesem Verhältnis auf die Spur zu kommen versuche. Beides sind insofern Familiengeschichten.

STANDARD: Die Erzählerin verstrickt sich in eine Affäre mit Stefan. Sissi kannte die beiden sehr gut, auch wenn sie abwesend ist, scheint Regina im Hintergrund geistig, emotional und sexuell übermächtig. Stefan macht zudem im Bett Sissi gegenüber abwertende Bemerkungen. Was die Empfindungen der Erzählerin ihm gegenüber aber eher intensiviert. Ist sie eine Masochistin, wie Sissis Freundin Emma sagen würde.

Faschinger: Mit Sissis Minderwertigkeitsgefühl gegenüber ihrer alten Freundin Regina wollte ich auch die Empfindung der Unterlegenheit einer Tochter gegenüber der übermächtigen Mutter ausdrücken, eine Art Elektrakomplex. Bei Sissis anfänglichem Masochismus handelt es sich nicht nur um einen allgemein Frauen zugeschriebenen, er hat aufgrund von Österreichs Nazi-Vergangenheit indirekt auch mit der nationalsozialistischen Ideologie zu tun, die in vielen Punkten, vor allem auch in der Erziehung, sadomasochistisch geprägt war. Die unter den Nazis aufgewachsenen Eltern haben dies häufig an ihre Kinder weitergegeben. "Die Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek befasst sich nach meinem Verständnis auch mit diesem Thema.

STANDARD: Von Sadismus und Masochismus könnte, wie sich herausstellt, auch die Ehe Stefans zu seiner verschwundenen Frau geprägt gewesen sein. Stefan scheint in der Ehe eher das Opfer zu sein, die Rollen, heißt es an einer Stelle des Buches, sind aber eventuell austauschbar.

Faschinger: Ja, die Rollen sind austauschbar - wenn sich die Machtverhältnisse in einer solchen Paarung verändern bzw. umkehren, wird der Sadist zum Masochisten und vice versa. Das vermeintliche Opfer kann, so wie es in meinem Roman ist, auf diese Weise zum Täter werden. Das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis bleibt in solchen symbiotischen Beziehungen jedoch in jedem Fall bestehen.

STANDARD: Die Liebe ist ein Dauerbrenner der Literatur. Wir scheinen uns, siehe "Shades of Grey", mit ihr zunehmend schwer zu tun. Oft wird Auslieferung mit Hingabe verwechselt.

Faschinger: Was den Begriff Liebe betrifft, kommt es ja ständig zu Verwechslungen. Ich kann mit dem Wort, ehrlich gesagt, wenig anfangen, unter diesem Überbegriff, der sehr verallgemeinernd und ziemlich ungenau ist, haben die verschiedensten Emotionen Platz, manchmal sehr dubiose. Das, was sich als Liebe ausgibt, stellt sich bei näherem Hinsehen häufig weniger als selbstlose und fördernde Empfindung heraus, die das Wohl des anderen im Blick hat, sondern als Abhängigkeit, Ausbeutung, Kontrollbedürfnis, wahnhafte Obsession etc. Über kaum ein Wort sind so viele Lügen im Umlauf.

STANDARD: Wie viele Ihrer Romane handelt auch "Die Unzertrennlichen" von Enge und Flucht?

Faschinger: In der Psychologie spricht man von der so genannten Fight-or-Flight-Reaktion. Dabei geht es um die rasche körperliche und seelische Anpassung von Lebewesen in Gefahrensituationen. Wenn sich ein Mensch oder auch ein Tier in die Enge getrieben fühlt und keine Chance sieht, im direkten Kampf zu gewinnen, ist Flucht die einzige Möglichkeit.

Meinen - vorwiegend weiblichen - Figuren gelingt es meist, sich durch eine drastische Aktion aus der Enge zu befreien und die Flucht zu ergreifen. Sie sind ständig in Bewegung, haben Angst, sich niederzulassen, da dies Stagnation, Ausgeliefertsein, Verstummen, Resignation bedeuten kann, auch Gebundenheit durch weibliches Leben, durch Familie und Kinder. Den Ort, der ihnen angemessen wäre und wo sie in Frieden leben können, finden sie zwar nicht, aber sie gewinnen Kraft und Erfahrung durch ihre unstete Existenz, und irgendwann kommt der Augenblick der Rückkehr, der Moment, in dem sie sich den ursprünglichen Verhältnissen stellen und nicht mehr flüchten.

Jedes meiner Bücher stellt einen Versuch der Rückgewinnung von verlorenem Boden dar. "Winning Back Lost Territory" ist auch der Titel einer Anthologie amerikanischer Germanisten über meine Arbeit, die eben in Druck gegangen ist.

STANDARD: Namen sind in "Die Unzertrennlichen" wichtig, Regina, also Königin, heißt die verschwundene Freundin, Sissi wird oft Prinzessin genannt. Andere Namen wie Ercole, Achille, Elettra verweisen auf den antiken Mythos, in dem es oft darum geht, sich selber zu erkennen. Oder ist das zuviel ins Buch hineininterpretiert?

Faschinger: Sie ist sozusagen eine zweifache Königin, die sowohl die Frau Sissi als auch den Mann Stefan in ihren Bann zieht. Die "Prinzessin" genannte Sissi wäre, so gesehen, das Kind des "Königspaares" König, was auf eine gewisse Unreife, Infantilität und Unterlegenheit hinweist. Vom Elektrakomplex habe ich weiter oben schon gesprochen. Der Vorname Sissi weist auch auf die österreichische Kaiserin hin, die ihrer Rolle nie gerecht wurde und vor den Verpflichtungen, die diese ihr auferlegte und die ihr sehr wenig persönliche Freiheit ließen, Reißaus nahm, ähnlich wie manche meiner weiblichen Romanfiguren. Ihr Tod war letztlich eine Folge dieser Flucht.

Stephan war übrigens der Vorname mehrerer ungarischer Könige, die ungarische Krone war die so genannte Stephanskrone - auch hier besteht eine Verbindung zur Habsburgermonarchie, die ja historischer Schauplatz in meinem Roman "Wiener Passion" ist. Die italienischen Vornamen, die so direkt auf die Antike zurückgehen und insofern eine Kontinuität mit einer vergangenen Welt herstellen, habe ich verwendet, weil sie mich amüsierten.

Vielleicht hat mitgespielt, dass es in dem Roman ebenfalls um eine vergangene Welt geht, einerseits um die ehemalige Freundschaft dreier Menschen, andererseits um meine eigene Vergangenheit. Die beiden dem Buch vorangestellten Motti weisen auf die Bedeutung der Vergangenheit hin.

STANDARD: Wie in einer antiken Tragödie sind es eine ganze Reihe zum Teil aberwitziger Zufälle, die die Erzählerin - auch - auf ihre eigene Lebensspur führen?

Faschinger: Ich liebe Zufälle - so wie auch die Schriftstellerin Patricia Highsmith, die in dem Buch mehrmals genannt wird. Ich finde, man darf die Gutgläubigkeit des Lesers durchaus ein bisschen strapazieren, es handelt sich schließlich um Literatur, nicht um Realität. Und die drastische Veränderung der Hauptfigur ist ja ein Postulat des Romans - Sissi wird durch die Ereignisse reifer, wandelt sich von einem etwas kindlichen Geschöpf zur Frau. Dazu muss sie allerdings zuerst in die Unterwelt, in den Hades, zu den Toten hinabsteigen, zunächst - ganz konkret und unfreiwillig - ins Grab des Vaters, später zu Regina in die Wassertiefe.

STANDARD: Obwohl Sie in Ihren Büchern Wertungen vermeiden, scheinen Ihnen die Randständigen näher zu sein als jene, die glauben, ihr Leben im Griff zu haben?

Faschinger: Im Grunde werte ich schon, aber eher in der Form von Beschreibung als durch direkten Kommentar. Auch geht es mir durchaus um psychologisch fundierte Porträts, ich interessiere mich für die Psychoanalyse und für Freuds Traumdeutung - wie auch nicht in dieser Stadt? Aber auch diesbezüglich versuche ich allzu offensichtliche Deutungen zu vermeiden.

Ja, meine Liebe gehört eindeutig den Randständigen, wie Sie sagen - den Außenseitern, den kleinen, ausgebeuteten Leuten, den Opfern der Gesellschaft. Das mag damit zu tun haben, dass ich selbst von einer Reihe solcher kleiner und ausgebeuteter Leute abstamme und für diese Ahnen starkes Mitgefühl empfinde. Zumindest in meinen Büchern dürfen solche benachteiligten Menschen den Sieg davontragen, in der sozialen Wirklichkeit sind sie so gut wie immer die Verlierer. (Stefan Gmünder, Album, DER STANDARD, Langfassung, 28./29.7.2012)