Klaus Haberkern: "Die Beziehungen zwischen biologischen Eltern und Kindern sind oft enger - was sich auch in stärkeren Verpflichtungen und einer größeren Unterstützungsbereitschaft äußert."

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Die Gesellschaft befindet sich im radikalen Wandel. Zusätzlich zur steigenden Zahl der Kinderlosen werden Partnerschaften und Familienbeziehungen immer instabiler, sagt Klaus Haberkern, Soziologe an der Uni Zürich. Daraus schließt er: "Familie kann nicht mehr als dauerhaftes und belastbares Unterstützungsnetzwerk für alte Menschen vorausgesetzt werden." Über die daraus resultierenden Aufgaben der Politik, die zunehmend aktivere Rolle der "jungen Alten" und über Männer, die "einfach zu früh" sterben, sprach er mit Katrin Burgstaller.

derStandard.at: Unsere Gesellschaft steht vor einem radikalen demografischen Wandel. Sie wird immer älter, die Nachkommenschaft geringer. Was sind die größten Herausforderungen, die sich daraus ergeben?

Haberkern: Wenn wir das Beispiel der Pflege nehmen: Hier wird einerseits der Bedarf ansteigen, andererseits stehen weniger staatliche Mittel zur Finanzierung der Pflege zur Verfügung. Somit muss mehr Geld von den jüngeren an die älteren Generationen umverteilt werden. Sowohl die Umverteilung als auch - alternativ - Reformen des Pflegesystems sind eine große Herausforderung.

Es ist gut vorstellbar, dass die Familie stärker in die Pflicht genommen wird, und das, obwohl sie immer weniger in der Lage ist, umfassend Pflegeaufgaben zu übernehmen. Zum einen steigt die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Personen an, also genau in den beiden Personengruppen, die bislang die meisten familiären Betreuungsaufgaben übernommen haben. Andererseits hat sich auch die Familienwelt geändert. Die Scheidungsraten haben zugenommen, es gibt mehr Stieffamilien, und der Anteil der Alleinerziehenden ist ebenfalls stark gestiegen. Familie kann also nicht mehr als dauerhaftes und belastbares Unterstützungsnetzwerk für alte Menschen vorausgesetzt werden.

derStandard.at: In Ihrer Publikation für die OECD differenzieren Sie in jüngere Alte (65- bis 75-Jährige) und ältere Alte (75- bis 85- Jährige). Sie meinen, die jüngeren Alten werden in Zukunft die Gesellschaft aktiv und entscheidend mitprägen. Wie konkret?

Haberkern: Mehr gesunde Lebensjahre - also die Zeit, in der wir ohne größere Beschwerden leben können - ermöglichen es älteren Menschen, sich aktiv in Familie, Gesellschaft und die Arbeitswelt einzubringen. Bereits heute zeigen die hohen Weiterbildungsraten, dass die jungen Alten noch etwas vorhaben, lernen, leben und erleben, aber auch gestalten wollen. Sie engagieren sich zum Beispiel sehr stark in der Freiwilligenarbeit.

derStandard.at: Derzeit beteiligen sich ältere Menschen in Skandinavien mit einem Anteil von 60 Prozent häufiger an Hausarbeit und Kinderbetreuung als in Österreich, wo das nur 45 Prozent der Älteren tun. Woran liegt es begründet, wie sehr ältere Menschen aktiv an der Familienarbeit beteiligt sind?

Haberkern: In den skandinavischen Ländern übernehmen viele Menschen Aufgaben in Familie und Gesellschaft, sie passen mal auf die Enkelkinder auf, engagieren sich ehrenamtlich, helfen gelegentlich dem Nachbarn im Haushalt. Aufgrund des breiten Angebots in der Kinderbetreuung und Altenpflege fällt die Unterstützung jedoch meist nicht sehr umfassend aus. Viele helfen also vielen, jedoch wenig. Das ist in Österreich anders. Die Unterstützung konzentriert sich hier stärker auf die Familie.

Wenn sie jedoch erfolgt, dann oft sehr umfassend. Zum Beispiel leisten Kinder dann eine Rund-um-die-Uhr-Pflege, oder die Großeltern passen an mehreren Tagen auf die Enkelkinder auf. Eine so regelmäßige und intensive Unterstützung findet man in den skandinavischen Ländern nicht so häufig. Das hat auch mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen zu tun. Während in Österreich mehr Verpflichtungen zwischen Angehörigen bestehen und die Betreuung in der Familie stark gefördert wird, gibt es in den skandinavischen Ländern umfassendere Alternativen zur Betreuung in der Familie.

Es kommt also auch darauf an, welche Alternativen zur Betreuung in der Familie es gibt und was von Angehörigen verlangt wird, etwa ob sie Pflegeaufgaben übernehmen sollen und wie sehr sie dabei unterstützt werden.

derStandard.at: Spannend ist, dass ältere Menschen mehr Unterstützung in finanzieller, emotionaler und instrumenteller Hinsicht bieten, als sie bekommen. Wie lässt sich das erklären?

Haberkern: Das ist auch eine historische Besonderheit. Noch nie gab es eine Generation von älteren Menschen, die so viel Geld und so viel Zeit hatte und gleichzeitig bei so guter Gesundheit war. In der Nachkriegszeit konnte ein immenses privates Vermögen angehäuft werden. Obwohl die Menschen immer älter werden und gesünder altern, hat sich das Renteneintrittsalter in den vergangenen Jahrzehnten sogar verringert, und so bleibt auch viel Zeit für die Familie. In Zukunft wird sich das jedoch wieder ändern, da sowohl mit einer geringeren Rente als auch mit einem steigenden Renteneintrittsalter gerechnet werden muss.

derStandard.at: Warum haben "die Alten" dann so ein schlechtes Image?

Haberkern: Das Bild vom Alter wird von der letzten Lebensphase bestimmt, oft werden alte Menschen mit Pflegebedürftigen gleichgesetzt. Zudem wurde der steigende Anteil älterer Menschen immer als Problem für die sozialen Sicherungssysteme dargestellt. Dabei ist es doch eine Errungenschaft, dass wir länger gesund leben. Das Problem sind ja nicht die älteren Menschen, sondern die sozialen Sicherungssysteme selbst. Sie sind nicht für die demografische Alterung ausgelegt.

derStandard.at: Die Familie nimmt bei der Versorgung von Pflegebedürftigen in allen OECD-Ländern die bedeutendste Rolle ein. Denken Sie, dass sich das ändern wird?

Haberkern: Die Familie wird weiterhin eine sehr bedeutende Rolle spielen. Allerdings nicht mehr im gleichen Ausmaß wie heute. Partnerschaften und Familienbeziehungen sind instabiler geworden, was sich auch auf die Pflege im Alter auswirkt. Dann haben wir ja nicht mehr die rigorose Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen. Früher haben Frauen sehr umfassend Familienaufgaben übernommen. Mit der steigenden Erwerbstätigkeit sind sie jedoch immer weniger in der Lage dazu, während Männer diese Aufgaben nur selten übernehmen. Betreuungsaufgaben werden ausgelagert. Und schließlich können wir eine rasante technologische Entwicklung bis hin zu Pflegerobotern beobachten, auch diese wird die Pflege in Zukunft verändern.

derStandard.at: Die Zahl der Kinderlosen und Singles steigt - sowohl Kinder als auch Ehepartner spielen aber eine wichtige Rolle in der Pflege. Hat die Gesellschaft schon eine adäquate Antwort auf diese Veränderungen gefunden?

Haberkern: Nein, bisher noch nicht. Gerade auch in Ländern wie Österreich wird noch davon ausgegangen, dass die Familie einen bedeutenden Teil der Pflegeaufgaben übernimmt. Gerade Singles und Kinderlose können jedoch nicht auf diese Unterstützung zählen. Und Freunde und enge Vertraute, die in der Zukunft eine wichtigere Rolle spielen werden, bekommen weniger Unterstützung von Arbeitgebern oder vom Staat, wenn sie Pflegeaufgaben übernehmen wollen.

derStandard.at: Sie schreiben, familiäre Verbindungen, die aus Stief- oder Patchwork-Konstellationen hervorgehen, sind schwächer als Blutsverwandtschaften. Warum ist das so?

Haberkern: Auch wenn es im Einzelfall nicht immer zutrifft, in der Summe ist das so. Die Beziehungen zwischen biologischen Eltern und Kindern sind oft enger - was sich auch in stärkeren Verpflichtungen und einer größeren Unterstützungsbereitschaft äußert. Zudem bestehen auch geringere gesetzliche Verpflichtungen zwischen Stiefeltern und -kindern, die ja auch darüber entscheiden, ob man Pflegeaufgaben übernimmt oder sich an den Kosten beteiligt.

derStandard.at: Die Politik diskutiert allerdings, auch Stiefeltern mehr Rechte einzuräumen - etwa Pflegeurlaub. Könnten somit auch mehr rechtliche Pflichten für die Stiefkinder entstehen? 

Haberkern: Ja, das ist gut möglich. Vor dem Hintergrund der knappen Haushaltslage ist die Versuchung groß, die Angehörigen stärker in die Pflicht zu nehmen, warum nicht auch die Stiefkinder oder Stiefeltern? Ich halte das allerdings für den falschen Weg. Verpflichtungen sollten reduziert, dafür jedoch Anreize geschaffen werden, so dass auch Freunde oder Bekannte oder eben die Stiefkinder Unterstützungsaufgaben übernehmen.

derStandard.at: Was raten Sie kinderlosen Menschen: Wie sollen sie sich für das Alter absichern?

Haberkern: Das hängt ganz vom Typ ab. Wer es sich finanziell leisten kann oder mag, für den kommen auch private Pflegeversicherungen in Frage. Bei Kinderlosen ist ja auch Erbschaft nicht so ein großes Thema, somit können auch Vermögen oder Wohneigentum im Pflegefall leichtfertiger veräußert werden. Besonders geeignet sind zudem gemeinschaftliche Wohnformen. Dabei schließen sich zahlreiche Familien und Personen zusammen, zum Beispiel in einer Siedlung oder Wohnblöcken, und helfen sich gegenseitig. Aufgrund der Größe der Gemeinschaft ist die Unterstützung sehr vielfältig und das Arrangement auch langfristig stabil. Eine medizinisch anspruchsvolle Pflege kann hier nicht geleistet werden, aber diese sollte auch nicht in der Familie erfolgen.

derStandard.at: Ökonomisch gedacht: Ist die Nachkommenschaft eher ein finanzielles Risiko oder überwiegen die Vorteile?

Haberkern: Kinder und Familie sollten nicht ökonomisch bewertet werden. Wenn Sie bei einem Kinderwunsch ein obligatorisches Gespräch beim Finanzberater hätten, er würde Ihnen abraten. Ein Pfarrer oder Psychologe würde Ihnen hingegen zuraten.

derStandard.at: Aber gerade die ökonomische Frage wird doch immer ins Treffen geführt, wenn es um die Kinderfrage geht.

Haberkern: Sicher, ökonomische Aspekte spielen bei der Familienplanung eine Rolle, insbesondere bei Männern. Und ohne Geld geht es wohl nicht. In vielen Fällen stehen bei den finanziellen Sorgen jedoch tendenziell hedonistische und nicht existenzielle dem Kinderwunsch im Weg. Die Sorge, großen individuellen Verzicht üben zu müssen, ist oft größer als die Hoffnung auf eine familiäre Bereicherung.

derStandard.at: In Ihrem Bericht schlagen Sie vor, dass Kinderlose mehr Geld bezahlen sollen, weil zu erwarten ist, dass der Staat voll für ihre Pflege im Alter wird aufkommen müssen. Würden Sie da eine eigene Pflegeversicherung anregen, oder wie soll Ihr Modell konkret aussehen?

Haberkern: In manchen Ländern ist das schon der Fall. Wir argumentieren für eine größere Flexibilität und mehr Autonomie bei Pflegeentscheidungen. Auch Eltern können ja ein professionelles Pflegearrangement mit ambulanten Pflegediensten oder in Pflegeheimen bevorzugen. Sie sollten dann aber höhere Beiträge zahlen oder mehr Zuzahlungen leisten, als wenn Angehörige Aufgaben übernehmen. Wer hingegen voll auf die Familie setzt, der sollte finanziell entlastet werden, aber auch weniger Zugang zu subventionierten staatlichen Pflegeleistungen haben.

derStandard.at: Werden Frauen und Männer im Alter unterschiedlich mit diesen Herausforderungen umgehen? Wer ist im Vorteil?

Haberkern: Derzeit sind Frauen im Nachteil. Sie leben länger und haben oft ältere Partner, übernehmen also deren Pflege. Für Männer sind Partnerinnen im Alter damit eine Art Pflegeversicherung, umgekehrt gilt das nicht. Die Männer sterben einfach zu früh. Wem es leichter fällt, das lässt sich schwer sagen. Bei Frauen sind Freundschaften weniger von gemeinsamen Interessen geprägt, die emotionale Nähe ist wichtiger. Das kann auch für die Pflege von Vorteil sein.

derStandard.at: Welche Instrumente sollte der Staat in die Hand nehmen, um dem absehbaren Pflegeengpass entgegenzuwirken?

Haberkern: Hilfe und Pflege außerhalb der Familie werden viel zu wenig gefördert und genutzt. Da liegt also ein erhebliches Potenzial brach. Gemeinschaftliche Wohnformen habe ich schon angesprochen, auch diese sollten gefördert werden. Zudem sollten die Ängste gegenüber neuen Technologien abgebaut werden. Vor dem Hintergrund des Pflegeengpasses sind sie ja eher ein Segen als eine Gefahr. Technologien können Pflegekräfte entlasten und so mehr Raum für Zwischenmenschliches schaffen. Schließlich müssen Personen, die es sich leisten können, stärker an den Kosten der Pflege beteiligt werden.

derStandard.at: In den USA gibt es Med-Cottages - ein mobiles Heim, das man im Garten aufstellen kann, um die pflegebedürftigen Eltern dort unterzubringen. Ist das nicht eine Boykotterklärung unserer Gesellschaft, wenn wir unsere Eltern sozusagen in den Garten auslagern?

Haberkern: Nein, ganz im Gegenteil. Die Med-Cottage dient ja gerade dazu, dass man die pflegebedürftigen Eltern bei sich aufnehmen kann. Gleichzeitig kann man sich auch zurückziehen, was bei einer so intensiven Aufgabe wie der Pflege sehr sinnvoll ist. Grundsätzlich ist das ja auch kein neues Konzept. In ländlichen Regionen gab und gibt es auf Höfen oft ein separates, kleineres Gebäude für die alten Angehörigen, etwa das Stöckli in der Schweiz.

derStandard.at: Vielleicht ist das aber auch eine Antwort auf reale Entwicklungen. In Zwei- oder Drei-Generationen-Haushalten will heute kaum mehr jemand leben. Woher kommt das?

Haberkern: Das hat ganz verschiedene Gründe. Heute haben wir mehr Wohlstand und einen höheren Wohnstandard, also auch mehr Platz. Ein gewichtiger Grund ist also: Man muss es nicht mehr. Oft wird ja davon ausgegangen, dass der Mehrgenerationenhaushalt die gewünschte Wohnform war. Das war sicher nicht immer der Fall, und es kann in dieser Konstellation auch viele Konflikte geben. Ältere Menschen können heute lange alleine oder als Paar wohnen, auch dank technischer Hilfsmittel von der Waschmaschine über Kommunikationsmedien bis hin zu Aufzügen.

derStandard.at: Viele Länder Europas haben mit Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen. Selbst gut ausgebildete Jungakademiker finden keine Jobs und müssen zu Hause wohnen bleiben. Wird diese Generation überhaupt einmal im Alter für ihre Eltern sorgen können?

Haberkern: In finanzieller Hinsicht vermutlich nicht: Die heutige Jugend wird nicht mehr in der Breite so viel Vermögen und Wohneigentum anhäufen können. Ob sie zeitlich dazu in der Lage sind, hängt von den politischen Rahmenbedingungen ab, zum Beispiel die Rentenhöhe und das Renteneintrittsalter spielen hier eine Rolle. Zudem versuchen immer mehr junge Menschen, im Ausland der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Über weite Distanzen kann die Pflege aber nicht geleistet werden. Ich gehe davon aus, dass die Familie in Zukunft nicht mehr im gleichen Umfang wie heute Pflegeaufgaben übernehmen kann. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 30.7.2012)