Natürlich ist die Geschichte Siglufjördurs eine Metapher. Ein Gleichnis. Eine Geschichte mit Moral – aber keine Fabel. Denn durch Fabeln geistern Feen und Trolle. Ganz besonders durch solche aus Island. Aber Siglufjördur ist real. Und so real wie die Stadt im Nordwesten der Insel ist ihre Geschichte. Eine Geschichte von Armut und Fleiß, von Aufstieg, Wohlstand und Reichtum – und von Gier. Eine Geschichte der Maßlosigkeit, der schmerzhaften Erkenntnis, dass Ressourcen endlich sind – und was geschieht, wenn Profit und Wachstum über allem stehen.
Doch die Geschichte von Siglufjördur hat trotzdem auch ein tröstliches, Ende. Eine zweite Moral. Weil ein Einzelner einen Unterschied machen kann – und es möglich ist, sich selbst und die Welt in der man lebt, zu retten. Und sei es nur, indem man zeigt, was war. Etwa in einem Museum. Aber der Reihe nach.
Außerhalb von Island kennt Siglufjördur kaum jemand. Dabei war die Stadt auf der Halbinsel Tröllaskagi, 400 Kilometer nördlich von Reykjavik, einst weltberühmt. Wer in den 1960er-Jahren mit Fischerei zu tun hatte, kannte Siglufjördur: Die Stadt war die Welthauptstadt der Heringfischerei, das "Klondyke des Atlantik". Denn in jener Epoche, die in der isländischen Geschichte "das große Heringabenteuer" heißt (1944 – 1968), herrschte hier Goldgräberstimmung: Hering-Spekulanten machten Vermögen. Zehntausende fanden Arbeit: Auf Fangschiffen. In fünf Heringsfabriken. Oder an den 25 Einsalz-Stationen.
Islands Hering-Hauptstadt
Ohne die gigantischen Schwärme des atlantischen Herings, des "clupea harengus", (und des Kabeljau) gäbe es die Nationen und Völker an der Nordatlantikküste nicht. Seit dem Altertum ist der Knochenfisch unverzichtbar im Nahrungsplan der Menschen. Seinetwegen wurde sogar Krieg geführt. 1673 etwa – zwischen Briten und Niederländern. Also lange vor der industriellen Revolution. Und lange vor der Industrialisierung des Fischfanges. Die begann für den Hering Mitte des 19. Jahrhunderts, als Norweger vor Island in bis dato unbekanntem Ausmaß zu fischen begannen.
Der Tröllaskagi-Fjord bot Schutz vor Stürmen: Der kleine Hafen von Siglufjördur prosperierte. Man entlud – und begann zu verarbeiten. Und bald fischten auch die Isländer selbst mit: Das Meer schien unerschöpflich – und die Welt brauchte Fett. Der Fisch wurde gegessen, sein Öl kam in Tierfutter und Seife. Sogar die Erdölwirtschaft rechnete in Heringen. Bis heute: "Barrels" sind alte Heringfässer. Die waren omnipräsent – und genormt. Auf 158,99 Liter.
Nachdem Island 1944 unabhängig wurde, kamen bis zu 35 Prozent der Exporteinnahmen aus dem Heringhandel. Gut 20 Prozent der Welt-Heringe stammten aus Island. Und Siglufjördur war Islands Hering-Hauptstadt: 400 Fischerboote waren hier registriert. Das einstige Nest wuchs auf 3000 Einwohner und war die fünftgrößte Stadt Islands. Zur Hauptsaison arbeiteten hier 13.000 Menschen.
Der Fisch brachte Wohlstand. Und Wachstum: Flotte, Fangtechniken und Verarbeitung wurden besser und besser: Man wollte und holte mehr aus dem Meer. Dass Wachstum immer endlich ist, war Kein Thema.
Ausgefischt
Bis es vorbei war. Von einem Tag auf den anderen: 1968 waren die Heringschwärme verschwunden. Genauer: Dort, wo seit Menschengedenken zu Beginn der Fangsaison riesige Schwärme waren, war nichts. Und kam auch nichts: Keine "Schwankung". Keine "schlechte Saison". Aus und vorbei: Das "Silber der See" war aufgebraucht, das "Heringabenteuer" vorüber.
Die Leute in Siglufjördur erlebten, was "Überfischung" heißt. Für die Natur – und den Menschen: "Islands Gold" war weg – das "Klondyke des Atlantiks" würde den Gold-Rush-Städten folgen. Und zur Geisterstadt werden.
Siglufjördur starb. Anfang der 80er-Jahre lebten hier 1000 Menschen. Man hatte sich damit abgefunden: Die Stadt, die nur im Sommer am Landweg erreichbar war, hatte sich aufgegeben.
Nur einer machte da nicht mit: Der Künstler Örlygur Kristfinnsson. Er sammelte Freiwillige – und begann 1989 das Róaldsbrakki-Haus , eine norwegische Salzstation aus dem Jahr 1907, zu restaurieren. In dem roten Gebäude hatten jene Frauen gelebt, die draussen, auf dem Pier vor dem Gebäude, bei jedem Wetter Fische ausgenommen hatten.
Kristfinnsson machte in fünf Jahren aus der Ruine ein Museum. Ein Museum, das Aufstieg und Fall der Stadt Siglufjördur zeigte. Aber Kristfinnsson zeigte mehr als Fischerei und Industrie: Er machte vor allem die kargen Lebenswelten der Arbeiterinnen sicht- und spürbar. 2003 kam eine einstige Fabrik dazu. 2004 wurde ein Museums-Bootshaus errichtet – um wirklich alle Facetten der Heringsindustrie zu zeigen.
Hoffnung für Siglufjördur
Objekte und Räume sind eindrucksvoll. Ebenso das "Living Museum", bei dem die Heringausnehmearbeit vor dem Haupthaus erleb- (und riech)bar wird. Doch das Besondere ist die Meta-Botschaft. Kristfinnssons Gleichnis von Verantwortung, Profitgier und Endlichkeit aller Ressourcen. Und so weit vom Schuss Siglufjördur auch liegen mag: Derlei wird bemerkt. 2004 erhielt das Museum den renommierten "Micheletti Award" – einen der wichtigsten Museumspreise Europas.
Aber mehr noch: Das Museum rettete die sterbende Stadt. Nicht wegen der Besucher. Die Isländer begannen, wieder an die Gemeinde am Fjord zu glauben. Von 2006 bis 2010 wurden zwei – insgesamt – 14 Kilometer lange Tunnel gesprengt: Siglufjördur ist nun auch im Winter erreichbar – das stoppte die Abwanderung.
Heute leben 1300 Menschen hier. Vor dem Museum erzählen alte Fischer von alten Tagen. Und manche der Jungen sprechen wieder von Hoffnung: Vielleicht kommen die Heringsschwärme ja wieder. Irgendwann. Falls es nicht zu spät ist. Nicht nur für Siglufjördur: Denn die Stadt ist auch eine Metapher. (Thomas Rottenberg, Rondo, DER STANDARD, 10.8.2012)