Wildschönau - In Conrad Grubers Scheune hoch oben in den Tiroler Almen verbirgt sich der Schlüssel in die weite Welt. Der scharfe Geruch von Lack liegt in der Luft, keine Spur mehr von frischer Mahd, Kühen und Misthaufen. Nicht ein Staubkorn flimmert in der Sonne, kein Strohhalm hat sich auf das klinisch saubere Werkzeug verirrt - denn statt Heu ruhen tausende Pferdestärken in dem Stadl.

Gruber zieht mit einem schnellen Ruck eine Decke zu Boden und enthüllt den knallroten Metallrücken eines Lamborghinis. Gleich nebenan ein Jaguar aus den 50er-Jahren flankiert von protzigen Porsches und schnittigen Maseratis.

Pferdestärke statt Pferde

Manche wurden aus den USA eingeflogen, andere aus dem Nahen Osten und China. Die letzten Kilometer jagten sie eine schmale Bergstraße hinauf bis auf 1200 Höhenmeter. Vorbei an alten Bauernhöfen, die sich wie Tupfer in den fetten Wiesen ausmachen. Bis sie neben einem Kuhstall hinter dezenten Torflügeln verschwanden.

"Ich bin der einzige Nichtlandwirt hier", sagt Gruber, während er prüfend über ihre Kühlerhauben streicht. Aufgewachsen als Bergbauernkind, lernte er in Wörgl das Motortuning. Für seine Auftraggeber reiste er um die ganze Welt, bis es ihn mitsamt seines guten Rufes als Edeltuner zurück in sein Heimatdorf zog. Hier motzt er seither die Edelkarossen internationaler Autofreaks zu Flitzern mit mehr als 900 PS auf. Der Filmstar Silvester Stallone soll unter den Kunden sein. Gruber nennt keine Namen. Die technischen Wünsche, die er ihnen in monatelanger Arbeit erfülle, seien jedenfalls sehr speziell und von außen nicht ersichtlich.

Das Hemd und die lange Lederhose schwarz, die Stimme leise, fügt er sich nicht ins Bild der Bergbauern ein. Am Dorfleben nimmt er wenig teil. "Aber es ist einfach ein außergewöhnlicher Platz hier heroben. Und ich mag es gerne ruhig beim Arbeiten." Sagt es, tritt aus der eleganten Werkstatt und überblickt ganz Thierbach.

Eine Kirchturm, zwei Wirtshäuser, ein paar Bauernhöfe und eine Schule schmiegen sich in den hintersten Winkel der Wildschönau. In guten Jahren besuchen bis zu 15 Kinder die einzige Klasse. In schlechten waren es vier. Um die drohende Schließung zu verhindern, ließ der frühere Direktor, erzählen die Thierbacher, "den eigenen Buam", der ein Musterschüler war, ein Jahr wiederholen.

Gruber, privat mit einem alten VW unterwegs, ist einer von vielen Wildschönauern, die dem abgelegenen Hochtal die Treue halten. "Dort oben auf dem Sonnberg, auf dem steilsten Hof lebt eine junge Familie", erzählt Resi Riedmann und deutet hoch über die Wiesen. Das weiße Haar zu einem Knopf gesteckt, die Augen lebhaft, steht sie vor dem rosenumrankten Gemäuer ihres fast 500 Jahre alten Erbhofes und erfreut sich ihrer zahlreichen Nachbarn.

Von wegen Landflucht: "Überall rundum junge Bäuerinnen. Ohne die Weiberleut' geb' es das alles ja gar net." Ihr ganzes Leben hat die 75-Jährige für den Bauernhof in Niederau geschuftet. Gerne hätte sie auch einmal auswärts gearbeitet, "aber der Vater hat gesagt, um den Hof zu erhalten, musst bleiben. Es war kein leichtes Leben. Aber wir hätten es nie zusammengebracht zu verkaufen."

1933 wanderte der einstige Landwirtschaftsminister Andreas Thaler mit 120 Wildschönauern aus. Bittere Armut trieb sie nach Brasilien und ließ sie in Südamerika das Städtchen Dreizehnlinden aufbauen. Auch Resis Eltern hatten sich für die Überfahrt gemeldet, fanden jedoch auf dem Schiff keinen Platz. Sie blieben, und heute denkt keiner mehr in der Familie ans Abwandern. Auch Resis drei Töchter ließen sich im Tal nieder, in mittlerweile elfter Generation.

Viele der 4150 Wildschönauer, aufgeteilt auf vier aneinandergereihte Dörfer, sind Bauern im Ne- benerwerb. Da das zum Leben nicht reicht, pendeln die einen ins strukturstarke Inntal aus, zu Sandoz etwa mit tausenden Arbeitsplätzen in Kundl. Andere arbeiten im Tourismus oder den zahlreichen kleinen Regionalbetrieben.

Vier Volksschulen, sechs Feu- erwehren und vier Kirchen zählt die Gemeinde Wildschönau, dazu vier Musikkapellen und 65 Vereine. "Das ist sicher einzigartig", sinniert Bürgermeister Rainer Silberberger abends beim Dorfwirt. Wobei die Tallänge von 24 Kilometern diese Infrastruktur erfordere, wie er flugs versichert. "Im Grunde ist die Wildschönau wie eine Insel. Wir waren schon immer auf uns allein gestellt." Manchmal fragten ihn Amtskollegen, wie er das alles für ein paar tausend Einwohner finanziere. "Aber wir bauen nur das, was wir uns leisten können, und wir brauchen kein Schickimicki."

Gerade ist eine Mehrzweckhalle im Entstehen - mit Platz für alle, betont Silberberger, "die Feuerwehr, die Bergrettung, die Raiffeisenbank und das öffentliche Klo".

Seit Jahren verzeichnet der VP-Politiker mit dem Drei-Tage-Bart, dem Lederhalsband und weißen, aufgekrempelten Hemd steigende Einwohnerzahlen. Wobei: Grund kaufen darf nur, wer hier seinen Hauptwohnsitz hat - "neue Zweitwohnsitze gibt es keine. Man muss aufpassen, dass kalte Betten nicht Überhand gewinnen. Sonst knallen nämlich auch die Immobilienpreise nach oben." Es sei vor allem die Jugend, sagt Silberberger, die in den Dörfern bleibt.

Nicht hinterm Mond

Den hohen Aufwand für den Erhalt der Infrastruktur will er nicht schönreden. "Da tausch ich mit jedem anderen Bürgermeister." Vor allem die Kanäle und Wege belasteten, seufzt Silberberger. "Zu jedem Bergbauern führt eine für Lkws taugliche Straße. Was für eine Aufgabe."

Verfallen lassen hätte sie ihren Hof einst sollen, erzählt Resi. Dass sie das nicht zuließ, erfüllt sie mit Genugtuung. "Heut ist er auf einmal interessant für die Leut." Modern beheizbar sei er seit sechs Jahren. "Heizung, Fernseher, Auto - das braucht es heute. Man kann von den Jungen ja nicht verlangen, dass sie hinterm Mond leben."

Resi selbst hat sich nach ihrer Hofübergabe die Nutzungsrechte für einen mächtigen Backofen aus dem Jahr 1526 ausbedungen und fertigt zudem in langer Handarbeit Doggln (Schlapfen) für den Bau- ernmarkt. Gerade erst hat die Altbäuerin den Mopedführerschein gemacht - um einmal in der Woche zum Seniorentanz zu fahren. (Verena Kainrath, DER STANDARD, 16.8.2012)