Klagenfurt - Stadtflüchtig präsentiert sich die Literatur in Klagenfurt auch heuer wieder. Wie bereits in den Vorjahren ist ein verblüffend großer Prozentsatz der Texte in dörflichem Ambiente angesiedelt - beziehungsweise in der "Natur". Die Lust am Walde hat etwa die deutsche Autorin Katrin de Vries ihren Text überschrieben. Eine Lust, die in mehreren der Wettbewerbsbeiträge der ersten Tage wiederkehrte.

"Die triumphale Rückkehr des deutschen Waldes" konstatierte denn auch Jurorin Daniela Strigl als Fazit der Lektüre von weit über hundert Texten, wie sie jedem Juror im Vorfeld der 27. Tage der deutschen Literatur zugegangen waren.

Waldeslust und Szenarien, in denen eine explosive Mischung aus Archaik und hochmoderner Technik den apokalyptischen Sprengstoff gegeben habe: Wiederholt mäanderten die Stichworte Herr der Ringe und Harry Potter durch die Diskussionen des ersten Tages - die Adoption mythischer Märchen- und Rätselmotivik als eine Form durchaus autobiografisch verstandener Erlebenswelt mit ästhetischer Vorbildfunktion.

Ironie . . .

Ironisch eingekleidet präsentierte sich der Wald etwa bei Henning Ahrens, der Auszüge aus einem Romanmanuskript mit dem Arbeitstitel Commander Coeursledge las. Ahrens, der über John Cowper Powys promoviert und sich bisher als Lyriker einen Namen gemacht hat, kombinierte verspielt Sciencefiction, Kolportage, Kriegs- und Küchenszenarien deutlich cineastischer Inspiration zu einem anspielungsreichen Textkontinuum.

Märchenhafter bleibt der Wald bei Katrin de Vries. Seit Jahren arbeitet die Autorin mit der Grafikerin und Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger zusammen. Aus der Kooperation entstanden fantastische Kunstcomics, deren Suggestivkraft jedoch in hohem Maß der hochverletzlichen Zeichenkunst Feuchtenbergers entspringt.

Der zwingenden Bilder beraubt, mutet De Vries' märchenhaft-naive Erzählung, die romantische Waldmotivik mit zivilisationskritischen Anspielungen auf Stammzellen-und Klontechnik durchwirkt, seltsam verloren: Drei alte Menschen mieten für 24 Stunden einen umzäunten Wald, um in seinem Herzen einen alten Koffer zu öffnen, in dessen Innerem der Mann seit Jahrzehnten das Erbe seines Vaters verwahrt.

Nicht weniger verrätselt präsentiert sich Susanne Fischers Erzählung aus der deutschen Provinz, Zuckerwatte und Gesang: Eine Icherzählerin, die, wie man spät erkennt, brutal gebrochene Beine ans Zimmer fesseln, erfährt die Außenwelt über die Erzählungen der sie aufsuchenden Nachbarn - der Täter.

Krankheit und Tod in dörflichem Rahmen sind auch das große Sujet, an dem sich Sünje Lewejohann überhebt: Josef Haslinger nutzte die wohlfeile Gelegenheit, als Bachmann-Juror einer seiner Schülerinnen am Leipziger Literaturinstitut Öffentlichkeit zu schaffen - mit sehr bescheidenem Erfolg: die Geschichte um zwei eineiige Zwillinge, deren eine todkrank ist, die andere Selbstmord begeht, entschärfte die inhaltliche Dramatik mit sprachlicher Harmlosigkeit. Eine offenkundig im Schullabor gemixte Prosa.

Archaik . . .

Eine levantinisch-dörfliche Archaik voll mythischer Versatzstücke in altertümelnder Sprache bot selbst der überwiegend positiv aufgenommene Texte Häute von Feridun Zaimoglu, der einst durch seine in der "Kanaksprach" türkischer Emigranten gerappten Sprachtiraden von sich reden machte.

Nach Indien wiederum verschlug es Schwester und Bruder in Ulla Lenzes Romanauszug (der Roman erscheint im Herbst bei Dumont), wo sich der infolge einer Konversionsneurose erblindete Bruder offenbar von der Begegnung mit einem Guru Heilung erhofft. Der Textausschnitt schilderte die Taxifahrt ins Unbekannte.

Einzig Lukas Hammerstein griff in einem Auszug seines Romans Die hundertzwanzig Tage von Berlin, der im Herbst bei Fischer herauskommt, Großstadt-Zeitgefühl als Thematik auf: Der im pulsierenden Rhythmus des Technosounds geschriebene Text kreist vielstimmig um die ewige Partynacht der Neunziger, die bewusste Affirmation der damaligen Popliteraten durch essayistische Reflexionseinschübe brechend.

Will man nach elf Lesungen eine erste Halbzeitbilanz wagen, ist es eine an Kafka und der deutschen Romantik geschulte, motivreiche Verrätselung, die bisher nahezu alle Texte kennzeichnet. Dem suchenden Interpreten legen die Beiträge sinnreich geknüpfte Interpretationsteppiche, deren kunsthandwerkliche Arbeit jedoch ein profundes Unbehagen hinterlässt: Allzu obszön schiebt sich die Absicht in den Vordergrund, zumal der Stoff in vielen Fällen künstlich gestreckt wirkt, um die erforderliche Wettbewerbslänge zu erreichen.

Unbehagen verursacht zudem die fehlende Risikofreudigkeit der Beiträge - und sei es nur das Risiko, in Klagenfurt eigenwillig zu scheitern. Artig bewegen sie sich auf dem schmal umzäunten Waldweg gärtnerisch gestutzter Wettbewerbsliteratur. (Cornelia Niedermeier/DER STANDARD; Printausgabe, 28.06.2003)