Barbara Frischmuth, "Woher wir kommen". € 23,70 / 368 Seiten, Aufbau-Verlag, Berlin 2012

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Ist dieser Roman, ist Woher wir kommen jener Band, in den alle Bücher Barbara Frischmuths münden? In den sie münden mussten?

Kombiniert man allein die Titel ausgewählter belletristischer Veröffentlichungen der 1941 geborenen Schriftstellerin miteinander, von Haschen nach Wind (1974) über Bindungen (1980), Die Ferienfamilie (1981), Kopftänzer (1984) und Einander Kind (1990) bis zu ihren Poetik-Vorlesungen Traum der Literatur - Literatur des Traums, dem Lesebuch Wassermänner (1991), der Entschlüsselung von 2001 wie der vor vier Jahren erschienenen Aufsatzsammlung Vom Fremdeln und vom Eigentümeln miteinander, so ergibt sich daraus spielerisch der motivische Umriss ihres neuen Buches.

Denn Woher wir kommen, dieser Roman um drei Frauen aus einer Familie, dieser Sehnsuchts-, Heimat- und Liebesverlustroman, der mehrere Generationen und 75 Jahre umgreift, handelt von Bindungen und vom Haschen nach Wind. Es erscheint eine Ferienfamilie in dem kleinen Ort am See, unschwer als Altaussee zu identifizieren, es gibt Kopftänzer, die einander Kind sind und des Staunens noch kundig.

Dieses kunstvoll komponierte, beschwingt melancholische Buch handelt von Träumen, Realismus und Literatur, von der Fabelmacht des Erzählens wie von der Macht, die ein "Wassermann", wie ihn seine Geliebte nannte, lebenslang über diese hatte. Elementar kreist dieses Buch um Fremdsein und das Eigene, um Vergangenheitskreise und deren Überwindung, das Entschlüsseln des Lebens, das Eigensinnige der Gefühle. Und wie sich diese Gefühle nicht einengen lassen, sich Bahn brechen. Und ausbrechen in das Tantalusgebiet des "Was wäre (gewesen), wenn ...", in jenen Bezirk also, wo Sehnsucht auf Qual trifft, wo das Potenzielle ungelebten, durchkreuzten Lebens nur zögerlich mit erträumter Erfüllung kollidiert.

Einer sich gern bei offensichtlichen Schlagworten aufhaltenden Kritik gelten die Bücher von Frischmuth, die seit 1999 wieder in ihrem Geburts- und Kindheitsort Altaussee lebt, poetologisch als "Schreiben zwischen den Kulturen". Was recht eigentlich völlig nichtssagend ist. Denn weder gehört die Steirerin zu auf Deutsch schreibenden Zuwanderern oder Einwandererkindern, die einen gewichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur liefern, Rafik Schami, Feridun Zaimoglu und Emine Sevgi Özdamar etwa, noch zu dem, was literaturwissenschaftlich als "postkoloniale Literatur" bezeichnet wird. Doch die Fremde, insbesondere der Orient, spielt in allen Büchern Frischmuths, die Türkisch und Ungarisch studiert hat, eine wesentliche Rolle.

Emotionale Verluste

War es 2008 in ihrem Roman Vergiss Ägypten Kairo, so ist es nun wie schon 1998 in Die Schrift des Freundes Istanbul, das alte Istanbul zwischen 1979 und 1988, besonders der Bezirk Pera rings um den Galataturm, dem sie hinreißende Beschreibungen widmet.

1988 verlässt Martha mit ihren kleinen Zwillingskindern Olli und Ada die Stadt und siedelt über zu ihrer Tante Lilofee, die in der Familienvilla seit Jahren einen Ausschank betreibt. Marthas große Liebe Robin war beim Besteigen des Ararat abgestürzt, die Leiche wurde nie gefunden, eine Zukunft sieht Martha für sich nur in Österreich. Nach und nach übernimmt sie den Ausschank, baut ihn zu einem Restaurant um, das erfolgreich ist.

Auch Lilofee und Ada, die zwei anderen zentralen Frauenfiguren des Buches - jedes der drei verschleifenden, kunstvoll ineinander gefügten Kapitel ist mit einem dieser Namen überschrieben - mussten emotionale Verluste hinnehmen.

Die Ende der 1920er-Jahre geborene Museumsdirektorentochter Lilofee verliebte sich 1944 in den geflohenen ukrainischen Zwangsarbeiter Oleg, sie versteckte ihn, versorgte ihn heimlich mit Lebensmitteln, doch der opportunistische Vater ließ ihn arretieren und in ein Lager abschieben, aus dem Oleg nicht mehr wiederkam, die Schwangerschaft Lilofees wurde überdies zwangsweise beendet.

Unsicher und ratlos

Und Ada, die im Lauf der einige Monate umfassenden erzählten Zeit des Romans ihren 28. Geburtstag begeht, muss feststellen, dass sie den Suizid ihres künstlerischen Partners Seppi, Spiritus Rector des Kreativduos, das sie zusammen bildeten, noch immer nicht verarbeitet hat, dass sie künstlerisch stagniert, dass sie selber ihren Arbeiten gegenüber unsicher ist und ratlos im Leben steht. Auch das Verhältnis zu Jonas, ihrer Jugendliebe, der nach zehn Jahren mit drei kleinen Kindern wieder im Ort auftaucht, irritiert sie.

Die Abwehr einstiger Gefühle stellt sie fundamental auf die Probe - und sie verliebt sich in ihn. Reagiert aber verletzt, dass er, der in Wien sich eine neue Existenz aufbauen will, sich dann nicht meldet. Und als er sich wieder meldet, setzt intensiver denn je Zuneigung ein, und ein Aufbruch.

Mit dem Auftauchen der Kulisse Wien und dem Auftauchen der Kunstsammlerin Mia, die eine Arbeit von Ada erwirbt, Frischmuth als Konterfigur jedoch zu plakativ gerät, rutscht im Schlussdrittel das Buch passagenweise zu stark ab ins allzu Didaktische.

Zu papieren, zu überfrachtet gerät der Austausch zwischen Ada und der stupend klarsichtigen Dolmetscherin aus tschechisch-jüdischer Familie, von der fünfzehn Verwandte im Holocaust umgekommen sind, zu plappernd fallen hier die Dialoge namenlos das Geschehen kommentierender Stimmen aus. Sind sie die Inkarnation des Klatsches, die Geisterstimme des Kollektiven gegen das Feinindividuelle in diesem Kunstroman multipler Liebesformen, der sein Gegenstück findet in Ernst Haeckels anspielungsreich hineingewobenen Kunstformen der Natur?  (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 18./19.8.2012)