Es sind meist Frauen, die sich um Alte und Kranke kümmern. Das bedeutet für viele Abhängigkeit und Armut, sagt Erna Appelt.

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STANDARD: Als Geschlechterforscherin haben Sie in den vergangenen Jahren Ihren Fokus auf Pflege- und Betreuungsarbeit in Österreich gelegt. Worum geht es konkret?

Erna Appelt: Es geht darum, die Trennung zwischen Erwerbsarbeit auf der einen und Betreuung bzw. Pflege auf der anderen Seite zu verändern. Betreuungsleistungen sind elementar, doch der Begriff der sogenannten Care-Ökonomie verweist auch auf den wirtschaftlichen Aspekt - wobei es bezahlte und unbezahlte Betreuungsarbeit gibt. In Österreich wird 80 Prozent der Pflege- und Betreuungsleistung privat zu Hause erbracht, und dort kümmern sich meist Frauen um Kinder genauso wie um kranke und alte Menschen.

STANDARD: Was läuft falsch?

Appelt: Die Pflegearbeit ist von der Vorstellung geprägt, dass es eine natürliche und beliebig anzapfbare Ressource Frau gibt. Hier müsste es aus meiner Sicht - ähnlich wie in der Ökologie - ein Umdenken geben. Die Lebensqualität einer Gesellschaft hängt von diesen Leistungen ab. Das darf nicht allein den Frauen aufgebürdet werden. Pflege und Betreuung bedeutet für viele Frauen Abhängigkeit und eine Armutsfalle.

STANDARD: Was müsste passieren?

Appelt: Der Care-Bereich, der alle Formen der Betreuung und Pflege umfasst, muss dringend aus dem privaten Kontext herausgelöst und als gesellschaftliches Problem begriffen werden. Wir befinden uns am Schnittpunkt zweier Trends: In Europa ist mit Schulden- und Bankenkrise Sparen angesagt. Gleichzeitig wird es aus demografischen Gründen bald nicht mehr genug Menschen geben, die privat die steigende Zahl der pflegebedürftigen Alten versorgen können.

STANDARD: Was kann die Wissenschaft zur Verbesserung beitragen?

Appelt: Wir wollen das gesellschaftliche Bewusstsein entwickeln, dass Care-Arbeit eine produktive Sache ist und Wachstumsimpulse gibt. Pflege und Betreuung in allen Lebensphasen ist eine persönliche Dienstleistung, die auch Wertschöpfung bringt.

STANDARD: Wie könnten funktionierende Ansätze aussehen?

Appelt: In den skandinavischen Ländern gibt es den Begriff "pflegende Angehörige" gar nicht, obwohl auch dort Familien Angehörige betreuen. Wir brauchen einen neuen Mix aus professionellen Angeboten und privaten Leistungen. Bei uns sind pflegende Angehörige mit der Organisation oft überfordert. Die Verantwortung muss raus aus den Familien. Lokale, steuerfinanzierte Dienstleistungszentren könnten den Bedarf für Pflegeleistungen erheben, die Verantwortung für ein qualitätsvolles und ausreichendes Angebot tragen, Pflegepersonen selbst anstellen oder die Leistungen bezahlen.

STANDARD: Keine pflegenden Angehörigen mehr?

Appelt: Nach wie vor kann Pflege auch privat von Familienmitgliedern erbracht werden. Aber es werden Dramen verhindert, wenn eine pflegende Frau wegfahren will oder krank ist. Parallel dazu muss Erwerbstätigkeit neu gedacht werden: Fast alle Beschäftigten haben auch Betreuungsaufgaben. Das ist in der Unternehmenskultur zu wenig verankert. Wenn es keine großzügigeren Freistellungsregelungen gibt, ist Gleichstellungspolitik nicht realisierbar.

STANDARD: Krankenpflege, Kinderbetreuung und Altenpflege werden national geregelt. Welche Impulse können aus der EU kommen?

Appelt: Im Bereich der Beschäftigung will die EU erreichen, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen steigt und die Kinder- und Altenbetreuung ausgebaut werden. Das Modell der EU verschleiert aber die Realität: Zwar gelingt es, die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen; es handelt sich jedoch um Teilzeit- und geringfügige Beschäftigung, da den Frauen nach wie vor die Betreuungs- und Pflegearbeit aufgebürdet wird. Männer machen oft Überstunden und stehen damit nicht für die familiäre Arbeit zur Verfügung. Sie stärker in die Betreuungsarbeit einzubeziehen wird nur funktionieren, wenn mehr Geld in die Hand genommen wird. Es müssen einfach die Löhne im gesamten Pflege- und Betreuungsbereich erhöht werden.

STANDARD: Wie weit ist aus Ihrer Sicht die Gleichstellung gediehen?

Appelt: Sicher gibt es viele Fortschritte. Bevor aber unentgeltliche und entgeltliche Arbeit sowie Machtpositionen nicht gerecht zwischen Männern und Frauen verteilt sind, bleibt das Thema unerledigt.

STANDARD: Was hat Sie selbst zur Feministin gemacht?

Appelt: Das ursprüngliche Motiv war Gerechtigkeit. Meine Mutter, eine Mittelschullehrerin mit Doktorat, war mit uns vier Kindern nur noch Putzfrau und Köchin. Sie konnte ihre Qualifikationen nicht nutzen und hat extrem darunter gelitten. Es stört mich, wenn Menschen daran gehindert werden, ihr Potenzial zu entwickeln.

STANDARD: Eine Zielsetzung der Plattform Geschlechterforschung an der Universität Innsbruck, die Sie leiten, ist die Außenwirkung. Ist das Thema international ein Asset?

Appelt: Im internationalen Vergleich blamiert sich eine Uni, wenn sie keine Geschlechterforschung vorzuweisen hat. Das Thema ist zwar umstritten, aber keineswegs so passé, wie manche sich das wünschen.

STANDARD: Sie waren Ihr halbes Leben lang feministisch aktiv. Woher nehmen Sie den Biss?

Appelt: In der akademischen Welt muss man sich entscheiden und sich mit einem Thema profilieren. Ich habe die Frauenbewegung in ihrer aktiven, lebendigen Phase miterlebt. Wie die Plattform heute aussieht, habe ich zu verantworten. Das hat Spaß gemacht! (Astrid Kuffner, DER STANDARD, 23.8.2012)