Verrückt sei er, sagen die einen, andere halten ihn hingegen für einen berechnenden und kaltblütigen Massenmörder, dem nicht eine einzige Tasse im Schrank fehlt. Die fünf Richter von Oslo gaben im Fall Breivik nun letzterem Lager recht und beendeten damit einen Mammutprozess, der mustergültiger nicht hätte ablaufen können: transparent, gründlich bis ins kleinste, albtraumhafte Detail und vor allem fair gegenüber einem Angeklagten, der als das ultimative Böse wahrgenommen wird. Die wahre Leistung aber wurde auf dem Gebiet der psychiatrischen Diagnostik erzielt.

Zurechnungsfähig oder nicht - die Antwort auf diese Frage sollte doch eigentlich leicht zu finden sein. Falsch. Gerade in einem heiklen Fall wie diesem, in dem der Straftäter selbst unbedingt als zurechnungsfähig gelten will, besteht die Gefahr des Simulierens, des Vorspielens eines gesunden Geistes. Dass zwei Gutachten über Anders Breivik zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen, war daher nicht zwingend eine Überraschung. Und es zeigt deutlich das Dilemma der forensischen Psychiatrie auf.

Die alte Schule der Psychiatrie arbeitet vorwiegend auf der Basis persönlicher Gespräche und geht in der Regel automatisch davon aus, dass bei einem schweren Verbrechen eine schwere Krankheit vorliegen muss. Das klingt einleuchtend, das klingt logisch, vor allem aber ist es unkonkret, äußerst subjektiv und wird der Komplexität des menschlichen Geistes in keiner Weise gerecht.

Moderne Schulen der Psychiatrie hingegen setzen unter anderem standardisierte Tests ein, um zu einem möglichst konkreten Ergebnis zu kommen. Diese werden verstärkt in den USA angewendet, noch eher selten in Europa. Ob ein Wahn nun Teil einer Krankheit ist oder nicht, auch daran scheiden sich die Geister. Die Folge dieser Ungereimtheiten ist, dass bei Gutachten immer ein relativ großer Interpretationsspielraum vorhanden ist, wodurch bereits manche Straftäter zu Unrecht ungeschoren davongekommen sind.

Worin besteht nun die Leistung der psychiatrischen Diagnostik in diesem Fall? Sie hat, wenn auch unfreiwillig, ein Geständnis über die eigenen Unzulänglichkeiten abgelegt, und zwar dank Anders Breivik vor einem ausgesprochen breiten Publikum. Zu hoffen bleibt nun, dass daraus auch die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. Und das kann nur bedeuten: Modernisierung auf Basis umfangreicher, sich selbst hinterfragender Diskussionen. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 24.8.2012)