Robert Czepel sprach mit ihm über die hohe Mutationsrate des Grippevirus und heutige Gefahren.

STANDARD: Sie forschen unter anderem an Influenza-Viren. Was ist der Stand des Wissens?

Levine: Auf der ganzen Welt werden schon lange Zeit Proben von Influenza-Viren gesammelt. Die ältesten stammen von der Spanischen Grippe des Jahres 1918, die jüngsten aus diesem Jahr. Das Erbgut all dieser Viren wurde nun sequenziert: Das Virus besitzt acht Minichromosomen, bestehend aus 13.000 "Buchstaben", die wir "Nukleotide" nennen.

STANDARD: Warum war das Virus des Jahres 1918 so viel gefährlicher als jenes des Jahres 2012?

Levine: Da muss ich zunächst eines vorausschicken: Diese Viren kennen zwei Arten der Vermehrung. Zum einen lokale Epidemien, wie sie auch jedes Jahr in Wien stattfinden. Im ersten Jahr werden Menschen infiziert, im nächsten Jahr sind sie immun, im dritten oder vierten Jahr verlieren sie ihre Immunität wieder. Einer der Gründe dafür ist: Das Virus verändert sich extrem schnell. Wenn sich eine Zelle in unserem Körper teilt, entsteht pro 100 Millionen Nukleotide eine Mutation. Beim Influenza-Virus ist die Mutationsrate 10.000-mal höher. Es ändert sich so schnell, dass das Immunsystem nach relativ kurzer Zeit nicht mehr effektiv darauf reagieren kann.

STANDARD: Und die zweite Form der Vermehrung?

Levine: Nehmen wir an, im Körper eines Menschen kommen drei verschiedene Influenza-Viren zusammen, ein Schweine-, ein Vogel- und ein Menschenvirus. Diese drei können ihre Chromosomen austauschen - und wenn das passiert, entsteht etwas völlig Neues: Das Immunsystem kann die auf diese Weise entstandenen Viren überhaupt nicht erkennen. So entstehen globale Pandemien, wie es etwa im Jahr 1918 der Fall war.

STANDARD: Ein Chromosomenaustausch ist auch bei der Schweinegrippe 2009 passiert.

Levine: Ja, aber das war nicht katastrophal, weil dieser Erreger ein paar Schweinechromosomen und nur ein Vogelchromosom besaß. Im Fall der Spanischen Grippe stammten sieben von acht Chromosomen von Vogelviren - das machte den Erreger so gefährlich.

STANDARD: Warum sind die Vogelchromosomen so gefährlich?

Levine: Mein Kollege Benjamin Greenbaum und ich haben herausgefunden, dass die Vogelchromosomen einen molekularen Fingerabdruck besitzen. Das Erbgut der Influenza-Viren besteht aus RNA, wobei die RNA-Sequenz ein Alphabet aus vier "Buchstaben" verwendet: A, U, G und C. Vogelviren verwenden viel öfter die Buchstaben C und G - und sind daher als solche von Humanviren unterscheidbar.

STANDARD: Es geht lediglich um die Frequenz von C und G?

Levine: Ja. Aufgrund dieser Eigenschaft fanden wir heraus, dass der Erreger der Spanischen Grippe sieben von acht Chromosomen von Vogelviren geerbt haben muss. Dieser Unterschied gilt übrigens auch für das Erbgut von Menschen und Vögeln. Immungene von Vögeln, die auf Virusinfektionen reagieren, verwenden ebenfalls viel öfter C und G, als es die menschlichen Immungene tun. Offenbar imitieren die Viren das Erbgut ihrer Wirte.

STANDARD: Warum tun sie das?

Levine: Weil das menschliche Immunsystem im Gegensatz zu jenem von Vögeln den hohen CG-Gehalt der Viren erkennt und mit der Herstellung antiviraler Substanzen reagiert - zum Beispiel Interferon und Interleukin-6. Dadurch kann sich das Virus nur schwer vermehren. Aber: Zu viel Interferon und Interleukin-6 macht auch uns krank. Diese Substanzen beeinträchtigen das Atemsystem, und das kann lebensgefährlich werden. Das ist der Grund, warum die Spanische Grippe so gefährlich war: Das Immunsystem reagierte auf den Vogelvirus extrem heftig. Die Infizierten starben nicht wegen der Vemehrung der Viren und auch nicht an Lungenentzündung - sie starben an ihrer eigenen Immunreaktion. Nun, 100 Jahre danach, ist H1N1, wie man das Virus offiziell nennt, noch immer in unseren Körpern. Aber es hat sich an den Menschen angepasst und seinen CG-Gehalt nach unten gefahren.

STANDARD: Wie kommt es dazu, dass Vogelviren auf den Menschen überspringen?

Levine: Das kommt nur dort vor, wo Menschen in nahem Kontakt zu Vögeln leben. Etwa in Asien, wo Bauern Enten und Gänse züchten. Die Infektionen sind sehr gefährlich und können in mehr als 50 Prozent der Fälle tödlich sein. Aber sie sind in der Regel nicht ansteckend und beschränken sich meist auf die Familie der Infizierten.

STANDARD: Warum war die Spanische Grippe dennoch so ansteckend?

Levine: Weil zusätzlich Mutationen aufgetreten sind, die den Erreger in die Lage versetzt haben, sich von Mensch zu Mensch auszubreiten. Wie wahrscheinlich das ist, wissen wir nicht. Wir gehen davon aus, dass solche Mutationen einmal pro Jahrhundert auftreten.

STANDARD: Kann man das Wettrennen gegen Influenza jemals gewinnen?

Levine: Schwer zu sagen. Wir haben immer noch unser Immunsystem, das die Viren unter Kontrolle hält. Wenn Sie gesund sind und die passenden Medikamente zur Hand haben, werden Sie keine Probleme kriegen.

(Robert Czepel, DER STANDARD, 12.9.2012)