Wer fliegen will, muss sich wie ein Ackergaul in die Leinen legen ...

Foto: Fein, Kainrath

... und laufen, was die Beine hergeben.

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"Der Augenblick des Abhebens ist ganz etwas Besonderes", sagt Flugherr Reinhard.

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"Wer das Gefühl des Fliegens einmal erlebt hat, kommt davon nicht mehr los."

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Freie Sicht, so weit das Auge reicht. Blumig und weich bietet sich die Wiese dar, neigt sich sanft ins Tal. Ein einziger Laubbaum auf hunderten Metern. Mit ausladenden Zweigen zwar und dichter Krone, doch in der Weite der Alm ist es ein Leichtes, ihn links liegen zu lassen. Wäre da nicht die kleine Windböe. Ehe man es sich versieht, treibt sie einen acht Meter über den Boden. Der Atem stockt, die Beine zappeln, die Funkstimme im Ohr weist beschwichtigend den Weg, allein die Arme mit den Steuerleinen wissen nicht mehr, wo links und wo rechts ist.

Da kommt er, der einsame Baum. Wie ein Blatt im Wind fliegt man ihm mit dem Gleitschirm entgegen, macht schon seine knorrige Rinde aus. Alles, nur nicht ihn küssen! Eine unbeholfene scharfe Kurve bereitet dem Dilemma ein Ende. Schneller als einem dann doch lieb ist, hat einen die Erde wieder. Der gepolsterte Hosenboden im Gras, die Äste in sicherer Entfernung, ein Seufzer der Erleichterung.

"Schau den Baum nicht an", sagt Fluglehrer Reinhard unbeeindruckt des unrühmlichen Abgangs. "Die Arme anwinkeln und ruhig halten, auf meine Kommandos hören. Das wird schon - pack ma's." Mit zittrigen Knien bringt man sich in Startposition. Eins, zwei, drei: Wie ein Ackergaul stemmt man sich in die Leinen, der Schirm hebt sich knisternd über den Kopf. Laufen, laufen, laufen, laufen. Flugs lösen sich die Füße von der Wiese. Zwei, vier, sechs Meter lang gleitet man über ihr, berührt sie erneut, rennt, was die Beine hergeben, hebt wieder ab, diesmal höher, kehrt auf festen Boden zurück, um gleich darauf ein drittes Mal zu entschweben. Die Schwerkraft ist besiegt und der Baum in weiter Ferne.

Sieben Sekunden Glückseligkeit

Nach sieben glückseligen Sekunden folgt die Landung. Wenig elegant zwar, doch ohne Blessuren. Schirm zusammenpacken, sportlich über die Schulter werfen und zurück an den Start. Der Adrenalinstoß treibt einen den Hang hinauf, wäre dies nicht so schweißtreibend, würde man vor Freude glatt hüpfen.

"Wir wollen hier keinen zappelnden Überlebenskampf, sondern ästhetisches Loslösen vom Boden", erklärt Kurt seinen Zöglingen. Der drahtige Tiroler bildet in der Wildschönau mit seinen Kollegen seit gut zwanzig Jahren angehende Paragleiter aus. Risiken gehe er keine ein, versichert er, auch harmlose Rüttler in der Luft gehörten vermieden, "sonst schmeißen dir die Leut' das Zeug vor die Füße".

Kurts sich an das Talende schmiegender Übungshang gilt als ideal für Anfänger, "die Schirme sind gutmütig und verzeihen Fehler". Gefährlich sei der Sport nicht, fährt er fort, aber wie so vieles eben mit gewissen Unsicherheiten verbunden. "Die Unfälle passieren meistens durch Fehleinschätzungen der Piloten."

Der große Boom der Schirme war um die Jahrtausendwende. Leichteres Material hatte damals völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Dann ging der rege Zustrom zurück. Derzeit zählt der österreichische Luftraum 14.000 zugelassene Paraglider, und Kurt sieht die Zeichen wieder auf Wachstum stehen: Vor allem Frauen sorgen für Aufwind, ihre Zahl übertreffe in seiner Schule bereits jene der Männer.

Der Reiz des Abhebens

Nach 100 Flügen wüssten die meisten, wohin ihre Reise gehe: mit heißen Kisten in die Akrobatik, auf die Berge, über möglichst weite Distanzen oder ins beschauliche Sonntagsfliegen. "Es ist der Augenblick des Abhebens", sagt Reinhard versonnen, "der ist was ganz Besonderes. Ab diesem Moment unterscheidest du dich von den anderen. Wer das Gefühl des Fliegens einmal erlebt hat, kommt davon nicht mehr so schnell los."

Von unbeschwertem Gleiten ist man selbst freilich weit entfernt. In den Armen macht sich ein deftiger Muskelkater bemerkbar. Einmal mehr ist das G'wirks an Leinen zu entwirren, die sich quasi im Handumdrehen zu Knoten verschlingen. Weniger einem Vogel als einem Grashüpfer gleich geht es dann unter aufmunternden Zurufen der Mitstreiter die Flugwiese bergab. Die Kommandos per Funk sind kurz und klar: "Rechts, links, Arme rauf, Arme runter." Mehr lässt sich in der Hitze des Gefechts auch nicht befolgen. Unfreiwillig sprengt man wieder einmal die Grenzen des Flughangs, knapp über den Zaun geht's auf Nachbars Grundstück. Dieser hat es sich auf seiner Hausbank bequem gemacht und quittiert den stümperhaften Flug mit mildem Lächeln.

Lieber Bier als Bauchfleck

Ein sehnsüchtiger Blick auf die erfolgreichen Starts der Kolleginnen: Nahezu perfekt hebt eine ab, schwenkt über eine Strecke von hundert Metern grazil wie aus dem Lehrbuch einmal links, einmal rechts, bis sie das Gras verschluckt. Eine andere macht richtig Höhe, ihre Juchzer gellen über den Hang. Doch da, ein Fehlstart: Ein Flugaspirant stolpert über seine Beine und legt einen harten Bauchfleck hin. Passiert ist zum Glück nichts, der Unglücksrabe zieht ein kühles Bier einem weiteren Anlauf dennoch vor.

Sechs Tage währt in der Regel ein Anfängerkurs, der die Basis für selbstständiges Paragleiten legt. 40 Flüge - überwiegend unter Aufsicht - und eine theoretische Prüfung braucht es für die international anerkannte Lizenz. Entscheidend für den Start bleibt aber letztlich das Wetter. Wechselhaft und böig sei es heuer gewesen, sagt Kurt. Halbwegs verbindliche Voraussagen waren kaum möglich.

Auch jetzt ringen Sonne und Wolken am Markbachjoch um die Vorherrschaft. Die Alm über der Wildschönau ist der Mount Everest der Flugneulinge. In Etappen arbeiten sie sich auf immer höheren Startplätzen zu ihr empor. Bis sie auf dem Gipfel stehen. Hier mit dem Schirm 600 Höhenmeter allein über die unzähligen Bäume runter? Nie im Leben. Der unspektakuläre Hügel wächst in Gedanken zum gigantischen Gebirge heran, der zarte Lufthauch mutiert zum alles mit sich reißenden Orkan. Noch ist es nach drei Kurstagen für ein Solo vom Joch ohnehin zu früh. Doch geknickt gesteht man sich ein, für den Absprung wohl auch nach Wochen zu sehr Hasenfuß zu sein.

Anfänger!

Ein Tandemflug in sicherer Obhut reizt da schon mehr. Im Minutentakt haben zuvor dutzend euphorisch kreischende Mädels am Landeplatz neben der Seilbahn aufgesetzt. Anfänger! Souverän schultert man gemeinsam mit Pilot Rainer seinen Schirm, legt ihn unter seiner Aufsicht in Reih und Glied und fühlt sich dabei wie ein alter Profi. Nur kurz rutscht das Herz vor dem Start in die Hose. Gleich darauf fröhlich baumelnde Beinfreiheit.

Hoch über dem Übungshang unter dem knatternden Schirm ein kühner Griff zu den Steuerleinen. Ein Zupfer links, einer rechts, die Aussicht berauscht. Rainer erzählt nebenbei von seinen Reisen in die Wüste Chiles: "Starker Auftrieb erlaubt dort Starts vom Boden weg." Baummonster kommen einem da wohl kaum in die Quere. Vielleicht sollte man es ja doch noch einmal probieren mit dem Fliegenlernen. (Verena Kainrath, Rondo, DER STANDARD, 28.9.2012)