Realistisch-glatte Romane mit doppeltem Boden: Martin Suter. 

Foto: Standard/Christian Fischer

Wien - Literatur, schrieb Max Frisch in Montauk, hebe den Augenblick auf, dazu sei sie da. Und: "Die Literatur hat die andere Zeit, ferner ein Thema, das alle angeht - oder viele." Doch was wäre, wenn es nur Veränderung, aber keine Zeit gibt und die ephemere Tyrannin, wie ein Teil der modernen Physik glaubt, eine Illusion ist. Und was wäre, so lautet die Grundfrage in Martin Suters neuem Roman Die Zeit, die Zeit (Diogenes), wenn die Vergangenheit nicht unverrückbar feststände und man einen vergangenen Tag durch seine exakte und deckungsgleiche Rekonstruktion wiederherstellen könnte?

Peter Taler, aus dessen Perspektive der Roman in der Er-Form erzählt wird, und die zweite Hauptfigur des Buches, sein Nachbar Anton Knupp, sind zwei Übriggebliebene. Taler, ein Mann im sogenannten besten Alter, hat seinen Traum, Schauspieler zu werden, längst begraben und ist Buchhalter geworden. Der andere, Knupp, 80 Jahre und damit fast doppelt so alt wie Taler, ist ein pensionierter Lehrer, der nicht nur seiner diversen Face-Liftings wegen im Quartier als Sonderling gilt.

Beide sind Witwer, der Jüngere seit einem, der verschrobene Alte seit 20 Jahren, und beide sind über den Tod ihrer Frauen nicht hinweggekommen. Was Gründe hat. Talers Laura wurde vor der Haustür erschossen, und hätte sich der schmollend auf seine verspätete Frau wartende Gatte beim Betätigen des Türöffners beeilt und sich nicht extra Zeit gelassen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Ähnliches gilt für Knupps Frau Marta, die nach einer vom Hobbyfotografen Knupp durchgesetzten Afrika-Safari an Malaria starb. Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass der zu Beginn - Taler will natürlich den nie gefassten Mörder seiner Frau finden - angerissene Krimiplot nach und nach in den Hintergrund tritt und sich eine zweite Ebene öffnet. "Etwas war anders, aber er wusste nicht, was" lautet der erste Satz des Romans. Taler beginnt die Umgebung zu beobachten und fotografisch zu dokumentieren. Schließlich findet er heraus, dass Knupp ständig die Pflanzen im Garten erneuert, um sie in einer bestimmten Größe zu halten.

Die beiden kommen ins Gespräch, und der "Zeitnihilist" Knupp weiht den Nachbar in seinen Plan ein. Er will sein Haus und die nähere Umgebung zum Stichtag 11. Oktober anhand zahlreicher Fotos in den exakten Zustand vor 20 Jahren zurückversetzen, weil er glaubt, so diesen Tag wiederherzustellen und die Entscheidung zur Afrika-Reise rückgängig machen zu können. Dazu braucht es viel Geld - und Hilfe, die Taler nach einigem Zögern gewährt.

Martin Suter, dessen literarische Kreditwürdigkeit von feuilletonistischen Ratingagenturen gern in Zweifel gezogen wird, versteht es, unter der Oberfläche seiner realistisch-glatten Romane stets einen doppelten Boden einzuziehen. Denn mehr noch als die Fragen zu klären, ob es die Zeit gibt und wer Laura ermordete, geht es im Roman um Verlust, Trauer und Untröstlichkeit. Das sind genuin literarische Themen, und seit jeher war es die Stärke der Literatur, vom Vergangenen so zu handeln, als wäre es immer noch die Möglichkeit, als käme es noch einmal auf einen zu. Vielleicht ist es das, was Frisch mit der "anderen" Zeit meinte. (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 29./30.9.2012)