Will von der großen anatomischen Karte des Gehirns zu einer höher aufgelösten Karte kommen: Wulf Haubensak vom Institut für Molekulare Pathologie, IMP, der kürzlich einen der begehrten Starting Grants des European Research Council, ERC, zugesprochen bekam. 

Foto: Heribert Corn

Standard: Wie wichtig sind Emotionen für das Leben?

Haubensak: Ohne Basisemotionen wie Angst und Glückszustände würde man nicht überleben können, jedenfalls nicht in der freien Wildbahn. Denn ohne Furcht kann man Bedrohungen nicht ausweichen. Viele Menschen in der Wohlstandsgesellschaft essen zum Beispiel, weil sie sich belohnen wollen. Bei Ausfällen oder Verarbeitungsproblemen von komplexeren Emotionen, etwa Mitleid, wird das Leben hingegen stark beeinträchtigt.

Standard: Das menschliche Gehirnvolumen soll in zwei Millionen Jahren um rund 45 Prozent zugenommen haben - mit welchen Auswirkungen auf unsere Gefühlswelt?

Haubensak: Wahrscheinlich hat die Vielfältigkeit der Emotion im Laufe der Evolution zugenommen. Beweisen können wir das aber nicht. Da stoßen wir mit unseren Modellorganismen wie der Maus an Grenzen. Doch die Grundidee lautet: je komplexer der Lebensraum, desto mehr emotionale Tönungen.

Standard: Wie entstehen Emotionen im Gehirn?

Haubensak: Emotionen werden durch starke Reize aus der Umwelt hervorgerufen, die in bestimmten Zentren des Gehirns mit einer negativen oder positiven Erfahrung assoziiert werden. In einer bestimmten Situation habe ich Schmerzen, und fühle mich schlecht. Das wird zusammen mit Sinneseindrücken, die für diese Situation charakteristisch waren, assoziiert und im emotionalen Gedächtnis abgespeichert. Treten diese Reize wieder auf, wird das Gehirn den emotionalen Zustand von damals wieder abrufen - und eine entsprechende Verhaltensantwort auslösen. Dabei haben Emotionen eine sehr selbstbezogene Komponente. Das unterscheidet sie von anderen Gehirnfunktionen.

Standard: Inwiefern?

Haubensak: Es handelt sich nicht um eine rein sensorische Reflexkette wie etwa beim Sehen oder Riechen. Die Sinneseindrücke werden damit verbunden, wie man sich mental fühlt und in welchem körperlichen Zustand man sich befindet. Das zusammen repräsentiert den emotionalen Zustand. Über die motorischen Systeme wird dann ein bestimmtes Verhalten angetrieben.

Standard: Was reguliert die Emotion, physisch gesehen?

Haubensak: Es gibt kein Emotionsgen. Es gibt auch kein Emotions-Neuron. Emotionen zeigen sich letztendlich durch neuronale Aktivitätsmuster. Diese werden durch eine Vielzahl von Genen moduliert und kontrolliert. Dabei gibt es Genvarianten, die die Emotionsschaltkreise so beeinflussen, dass Personen ängstlicher sind als andere - oder eher depressiv.

Standard: Als eine Zentrale für die Gefühlsverarbeitung gilt ein sehr alter Teil des Gehirns, das limbische System. Was weiß man über dessen Arbeitsweise?

Haubensak: Wir wissen seit Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Amygdala - eine Komponente des limbischen Systems - ein Hauptknotenpunkt für Emotionen ist. Diese - wie auch Areale in Hirnrinde und Stammhirn - sind für emotionale Verhaltensweisen wichtig. Gemeinsam bilden sie ein Netzwerk an neuronalen Schaltkreisen. Wir haben aber noch nicht richtig verstanden, wie innerhalb der einzelnen Strukturen die Schaltkreise aufgebaut sind, wie sie funktionieren und wie sie Emotionen prozessieren. In Analogie zum Computer: Es ist, wie wenn man auf die Hauptplatine schaut und weiß, wie ihre Elemente miteinander verschaltet sind. Man weiß aber nicht, was in den einzelnen Chips abläuft.

Standard: Wie schaut man nun in die einzelnen Chips im Gehirn?

Haubensak: Es ist erst in den letzten zehn Jahren durch verfeinerte molekulargenetische Methoden möglich geworden, die Architektur der Bausteine aufzulösen und einzelne Schaltkreise gezielt zu manipulieren, um zu sehen, wie sich das emotionale Verhalten dann ändert. Die gesamte Neurowissenschaft befindet sich im Übergang: Man will von der groben anatomischen Karte des Gehirn zu einer höher aufgelösten Karte kommen, bei der man erkennt, wie etwa die Klassen von Nervenzellen in der Amygdala verschaltet sind.

Standard: Sie haben bereits zwei verschiedene Gruppen von Nervenzellen entdeckt, die Angst kontrollieren. Gibt es also doch Angst-Neuronen?

Haubensak: Es stellt sich natürlich die Frage, ob wir für zehn Emotionen zehn unterschiedliche Emotionssysteme haben. Wir denken, nein. Aber das schauen wir uns derzeit im Mausmodell an. Es könnte auch nur drei Systeme für mehrere Emotionen geben: ein System, das für negatives Gefühl kodiert, eines, das für positives Gefühl kodiert, und eines, das für den Erregungszustand kodiert. Je nachdem, wie stark die Systeme dann relativ zueinander aktiv sind, könnte man so Angst, Glück oder Traurigkeit fühlen.

Standard: Können diese Fragen mit der reduzierten Gefühlswelt der Maus beantwortet werden?

Haubensak: Wir arbeiten bei der Maus mit einem sehr reduzierten System. Doch der Nager kann positive und negative emotionale Zustände zeigen. So können wir zumindest erkennen, ob ein Angst- oder ein Glückszustand durch komplett separate Schaltkreise prozessiert wird - oder eben durch eine Kombination von den drei Schaltkreisen für Negatives, Positives und Erregung. Für das viel komplexere Gehirn des Menschen würde man dann eine starke Extrapolation durchführen. Damit bekommen wir eine Vorstellung davon, ob die vielfältigen emotionalen Schattierungen beim Menschen ebenfalls durch die Aktivität dieser drei Grundschaltkreise entstehen könnten. (Lena Yadlapalli/DER STANDARD, 3. 10. 2012)