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Wim Wenders hängt beim Fotografieren am analogen Vorgang, während er sich beim Filmemachen längst digitaler Techniken bedient.

Foto: Markus Schreiber/AP/dapd

Michael Hausenblas fragte ihn nach dem richtigen Moment beim Abdrücken, nach der Nacht vor einer Oscar-Verleihung und was Sam Shepard für ein Typ ist.

STANDARD: Was war das letzte Foto, das Sie gemacht haben?

Wim Wenders: Das war heute morgen, im Wattenmeer an der Nordsee.

STANDARD: Wie kam es dazu?

Wenders: Ich bin sehr früh aufgestanden und hatte das Gefühl, es gäbe einen großen Himmel zu sehen. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht.

STANDARD: Was würden Sie niemals fotografieren?

Wenders: Sehenswürdigkeiten, Fußballspiele, Hochzeiten, Taufen, Weihnachten, Promis ...

STANDARD: Die Orte, die Sie fotografieren, sind oft unscheinbar, manchmal trostlos. Wie wählen Sie sie aus?

Wenders: Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wie wählen die Orte mich als Photographen aus? (Wim Wenders wünscht bei seinen Antworten die Schreibweise "Photographie", Anm.) Das ist mir auch oft ein Rätsel. Magnetische Kräfte? Ich bin aber mit Ihren beiden Adjektiven "unscheinbar" und "trostlos" nicht so ganz einverstanden. Zumindest für mich sind "meine Orte" alles andere als das. Ich finde die Schauplätze, die ich photographiere, attraktiv, "bedeutend" im wahrsten Sinne des Wortes. Sie bedeuten mir etwas, deuten auf etwas hin, lassen sich deuten. Und sie sind durchaus "trostreich". Orte, anders als Menschen, beklagen sich nicht, sie zeugen nur von allem, was ihnen geschehen ist. Sie tun das manchmal auch komisch, mitunter drastisch, aber nie "trostlos". Finde ich.

STANDARD: Sie mögen Friedhöfe, Sie müssten sich in Wien wohlfühlen.

Wenders: Ich mag Wien auch außerhalb der Friedhöfe. Ich gehe in Wien irre gerne aufs Geratewohl spazieren. Als "Dritter Mann" sozusagen.

STANDARD: Apropos Friedhöfe: Sie wollten eigentlich Priester werden. Was kam dazwischen?

Wenders: Die Antwort gehört eigentlich gesungen: "Sex and drugs and Rock 'n' Roll". Und Flipperautomaten. Und die katholische Kirche ...

STANDARD: Warum gibt es nur selten Menschen auf Ihren Fotos?

Wenders: Man sieht auf jedem Bild von mir so viele Spuren, die Menschen hinterlassen haben, dass ich mich lieber auf die Orte allein konzentriere. Ganz im Ernst, kaum steht da eine Person im Bild, und sei es nur in der Ferne und selbst nur von hinten, geht schon die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters dahin. Das finde ich schade. Außerdem habe ich beim Filmen ohnehin immer Menschen vor der Kamera, da komme ich beim Photographieren bestens ohne sie aus. Orte allein stressen kaum und sind meist - nicht immer - ungeheuer geduldig.

STANDARD: Was denken Sie über Menschen, die sich nicht gern fotografieren lassen?

Wenders: Die haben mein vollstes Verständnis, da müssen sie gar keine Indianer sein. Photographieren ist immer auch ein aggressiver Akt, das weiß ich nur zu gut. Nicht umsonst heißt es: "To shoot pictures!"

STANDARD: Das heißt, Sie werden selbst auch nicht gerne fotografiert?

Wenders: Nein. Aber ich kenne keinen Photographen, der sich gerne photographieren ließe.

STANDARD: Nahezu jeder Mensch fotografiert heute, wenn er in den Urlaub fährt. Ist die Fotografie eine Möglichkeit, einen Ort auf gewisse Weise mit nach Hause nehmen zu können, oder wird dieser Ort auf einer Fotografie zwangsweise zu einem anderen?

Wenders: Wie ein Ort auf einer Photographie "überlebt", das liegt einzig und allein an der Haltung des Photographierenden, wie er oder sie dem Ort begegnet, mit welchem Respekt, mit welcher Aufmerksamkeit. Aber das Fatale ist in diesem Zusammenhang, dass die meisten Leute den Urlaubsort zwar mit nach Hause nehmen können, in Wirklichkeit aber nie weg waren und ihr Zuhause nie verlassen haben. Die Photos sollen dann zwar als Beweis dienen, dass sie in der Tat gereist sind, aber das eigentliche Unterwegssein passiert meist nur zum Schein. Der Tourismus ist eine Industrie, in der man den Menschen vorgaukelt, dass sie die Welt kennenlernen, aber weder "die Welt" noch das "Kennenlernen" finden dabei statt. Hier könnten Sie das Wort "trostlos" gerne gebrauchen!

STANDARD: Max Frisch sagte einmal, "auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung". Wie definieren Sie das Verhältnis zwischen Erinnerungen und Fotografie?

Wenders: Der war ein kluger Mann, der Max Frisch. Bezeichnend in seinem Zitat ist natürlich, dass das nur für die analoge Photographie galt, was er da so richtig sagte. Die digitale Technik bringt auf breiter Front einen Niedergang der Erinnerung mit sich und öffnet dem Vergessen Tür und Tor. Ich will mich erklären: Wenn ich mit meiner analogen Plaubel photographiere, dann weiß ich nicht, ob das Bild etwas "geworden" ist. Das kann ich erst überprüfen, wenn ich - oft Wochen später - meine Kontaktbögen begutachten kann. Bis dahin lebt das Bild in meiner Erinnerung oder in meiner Vorstellung. Beim digitalen Akt des Fotografierens - ja, ich würde das auch anders schreiben - kann ich praktisch schon bei der Aufnahme selbst, oder eine Millisekunde später, das Bild überprüfen. Das Resultat ist schon da. Ein Blick auf den Monitor zeigt mir, was ich mir vorher nur vorstellen konnte. Das ist für mich der fundamentale Unterschied!

Bei dem einen Akt spielt Erinnerung, Imagination, Wunsch, Vorstellung eine Rolle, der andere Akt ist ergebnisorientiert. Bei meiner Art des Photographierens spielt das eine besondere Rolle. Ich gehe mit jedem Ort, den ich aufnehme, einen Dialog ein. Der Ort erzählt sich mir, ich höre zu, dann mache ich ein Bild, dann höre ich weiter zu, dann gehe ich vielleicht weg, komme manchmal auch am Tag drauf wieder, aber auf jeden Fall ist der Dialog nicht beendet. Mit dem Blick auf die Mattscheibe ist auch der Dialog schon weitgehend beendet. Ich sehe ja schon, was ich produziert habe. Der Ort ist schon als Produkt im Bild aufgegangen, hat seine Magie schon verloren, sein Geheimnis ist schon gebrochen. Mit dem Erinnern ist das ganz genau so wie mit dem Zwiegespräch. Wir geben mit der digitalen Technik allmählich unser Gedächtnisvermögen auf. Wer weiß schon noch Telefonnummern oder Adressen, die haben wir ja alle gespeichert. Wer muss sich an alle Bilder erinnern, die er gemacht hat, wenn sie ohnehin alle sofort abrufbar sind. Wer erinnert sich noch an Reiserouten, wo doch das Navi einem ständig den Weg weist.

STANDARD: Überlegen Sie beim Fotografieren lange, komponieren Sie ein Bild, oder ist es wie bei einem perfekten Bogenschuss, der aus dem Wesen des Schützen herauskommt?

Wenders: So ungefähr ist das. Ich denke nicht über den Bildausschnitt nach, den kennt meine Hand schon, beziehungsweise meine Füße wissen, wie weit ich herangehen oder Abstand nehmen muss. Ich habe keinen Zoom, nur feste Brennweiten, und die sind so in meinen Augen und in meinem Körper drin, dass ich da nicht mehr groß "überlegen" oder "komponieren'"muss. In dem Moment, in dem die Hand die Kamera zum Auge geführt hat, kann ich auch schon auslösen. Wenn ich mit Stativ arbeiten würde, wäre das anders. Das ist viel frickeliger, und da muss man in der Tat vor und zurück und hin und her. Aber ich photographiere nur aus der Hand - oder zumindest fast ausschließlich. Nachts braucht man manchmal doch ein Stativ.

STANDARD: Die Empfindungen, die Ihre Bilder auslösen, sind mannigfaltig. Was würden Sie am liebsten auslösen?

Wenders: Eine Weiterführung des Dialogs. Ich sehe mich als eine Art Interpreten. Ich gebe weiter, was der Ort mir erzählt, so genau wie möglich, und hoffe, dass der Betrachter willens und fähig ist, und Lust hat, ebenfalls zuzuhören. Ich bin beeindruckt von den Orten, die ich finde. Ich möchte, dass auch der Betrachter beeindruckt ist. Deswegen mache ich meine Abzüge, vor allem die Panoramabilder so groß, bis zu fünf Meter lang: um den Menschen in der Galerie oder dem Museum in die Lage zu versetzen, dieser Landschaft mit einem ähnlichen Bildwinkel ausgesetzt zu sein. Vor einem kleinen Bild von einem Ort wird der Betrachter ganz groß, vor einem großen wird er so klein, so wie ich es war, als ich in der Landschaft stand.

STANDARD: Apropos Landschaft: Sie arbeiten an einem Spielfilm über den Architekten Peter Zumthor. Wie filmt man Architektur?

Wenders: Gute Frage. Nicht zuletzt deshalb wollen wir den Film machen, um das herauszukriegen. Architektur lebt man ja, oder er-lebt man. Wie man diese menschliche Grunderfahrung, unseren Orts-Sinn, auf eine Leinwand bannt, oder in diesem Fall - weil wir den Film in 3-D drehen wollen - wie wir ein Fenster öffnen, durch den man den Raum, den Architektur schafft, erfahren kann. Das wird hoffentlich nicht nur ein Ergebnis unseres Films, sondern eben auch unser eigenes Erleben bei der Arbeit.

STANDARD: Die Fotografie tut sich noch immer schwer, als Genre in der bildenden Kunst ebenbürtig neben Malerei oder Konzeptkunst zu bestehen. Warum? Weil jeder fotografiert?

Wenders: Vielleicht hat die inflationäre Entwicklung des Fotografierens etwas damit zu tun. Vor einiger Zeit war ich im Louvre, wo ich ewig nicht mehr drin war, und bin auch in den Saal geraten, in dem die Mona Lisa hängt oder vielmehr steht. In der Mitte eines nur für dieses eine Gemälde hin zubereiteten großen Raumes, hinter Panzerglas. Und davor drängeln sich circa 20 Reihen von Menschen, die alle, alle, ein Foto von der Mona Lisa machen wollen. Hunderte von Armen in die Luft gestreckt, mit Mobiltelefonen und digitalen Kameras, und alle machen das gleiche Bild von einem Bild, das schon längst kein Bild mehr ist. Das war echt eine bizarre Szenerie. Oder denken Sie an Rockkonzerte! Früher wurden da Feuerzeuge in die Luft gehalten, wenn es andächtig wurde, und alle haben im Rhythmus ihr Lichtlein hin- und hergeschwenkt. Das war schon piefig genug. Heute werden Tausende von Handys in die Luft gehalten, und es gibt ein Blitzgewitter von Fotos, auf denen nichts Brauchbares drauf ist. Wie sollen die Leute noch eine Hochachtung vor der Photographie als Kunst haben, wo es doch "jeder kann".

STANDARD: Immer mehr Fotografen sehen sich nach dem Analogen zurück. Könnte das eine Metapher sein, die auch für andere Bereiche des Lebens gilt?

Wenders: Durchaus. Der digitale Fortschritt hat uns in vielen Lebensbereichen so beschleunigt, dass wir emotional nicht mehr hinterherkommen. Die Menschen merken: das Kostbarste ist Zeit, und die wird uns immer mehr gestohlen. Und mit dem Verlust der Zeit geht ein Verlust der Erfahrung aus erster Hand einher. Wir machen immer mehr Erfahrungen aus zweiter oder dritter Hand. Daher die Sehnsucht nach dem analogen Prozess, der in vieler Hinsicht "menschlicher" war, nachvollziehbarer, überschaubarer. Mechanische oder analog funktionierende Dinge konnte man oft noch selbst reparieren, digitale nicht mehr. Die kann man nur noch wegschmeißen, einsenden oder austauschen.

STANDARD: Fotografieren Sie mit dem Mobiltelefon?

Wenders: Durchaus. Auch wenn ich das nicht Photographie nenne, was ich damit mache. Das sind Filmchen und Bildchen, schnell zu versenden, irre praktisch, so eine Art Notizbuch. Vieles davon wird nie wieder angeguckt. Der Akt des "Notierens" oder auch Weitergebens ist dabei das Wichtige, mitunter schon alles, nicht das Produkt, das dabei entsteht.

STANDARD: Was halten Sie von Paparazzi?

Wenders: Ein merkwürdiger Beruf. Hat so einen Modergeruch von Schmarotzern. Steht für die übelste Seite der Fotografie, ihr aggressiver, verletzender, zynischer Aspekt.

STANDARD: Sie heißen eigentlich Ernst Wilhelm Wenders. Hätten Sie es mit diesem Vornamen in den USA schwerer gehabt?

Wenders: Ich hieß nie so. Ich hieß immer schon Wim, seit ich geboren bin. Mein Vater durfte mich nur nicht als "Wim" eintragen lassen, weil in dem Amt im August 1945 noch ein alter Nazisack saß, der meinte, dass "Wim" kein deutscher Name sei. So musste mein Vater mich zähneknirschend als "Wilhelm" registrieren. Der "Ernst" war der Patenonkel, in alter Familientradition vor dem Namen, der dann im Pass auch unterstrichen war. In der Schule habe ich nicht reagiert, wenn der Lehrer "Wilhelm" oder gar "Ernst Wilhelm" gerufen hat. Das war ich nicht, mein Leben lang nicht. Erst im stolzen Alter von 60 Jahren ist es mir dann gelungen, den falschen und aufoktroyierten Namen zu eliminieren. In meinen Ausweisen steht seitdem nur noch "Wim".

STANDARD: Sie waren mit Ihrem Tanz-Epos "Pina" heuer bereits zum zweiten Mal für den Oscar nominiert. Wie verbringt man die Nacht vor einer Oscar-Verleihung?

Wenders: Im Bett, sich hin- und herwälzend und sich einredend, dass so eine Auszeichnung schließlich nicht so wichtig sei, dass man deswegen vor Aufregung wachbleiben müsste.

STANDARD: Ist der Oscar ein Ziel für Sie?

Wenders: Der Weg ist das Ziel. Einen Film zu machen, der Oscar-nominiert werden kann, das lohnt sich. Das Ding dann zu gewinnen, das wird überschätzt. Sagt man eher, wenn man zweimal knapp dran vorbeigeschrammt ist ...

STANDARD: Apropos Hollywood: Wenn man schon mal jemanden fragen kann, was ist eigentlich Sam Shepard für ein Typ? Sie haben mit ihm zusammengearbeitet.

Wenders: Ein Irrer. Der schreibt heute noch auf seiner alten Reiseschreibmaschine und fliegt nicht. Macht alles mit dem Auto. Ist schon ein paar Hundert Mal von New York nach Los Angeles mit dem Auto gefahren. Liebt das auch so. Spielt super Gitarre und Schlagzeug und hat noch nie in seinem Leben einen Roman geschrieben - nur unzählige Theaterstücke und Drehbücher. Der Mann ist schwer zu erreichen. Hat kein E-Mail und kein Fax und kann nur per Post oder per Telefon kontaktiert werden. Ansonsten ein Super-Typ. Solche gibt's nicht mehr viele.

STANDARD: Und Harry Dean Stanton, der die Hauptrolle in Ihrem Film "Paris, Texas" spielte?

Wenders: Lässig. Hat jetzt mit 80 leider seine Band aufgegeben, mit der er jede Woche aufgetreten ist und Rock 'n' Roll gespielt hat. Macht dafür umso mehr Kreuzworträtsel.

STANDARD: Ich hab gestern mit Freunden diskutiert, welcher Film Ihr bester wäre. Was meinen Sie?

Wenders: Kommt drauf an, ob Ihre Freunde einen guten Geschmack haben.

STANDARD: Werden Sie in Wien fotografieren?

Wenders: Möglich. Hab ja meine Plaubel immer dabei.

STANDARD: Ich bedanke mich herzlich.

Wenders: The pleasure was mine. (Michael Hausenblas, Rondo, DER STANDARD, 5.10.2012)