Dale Mortensen: Die Ökonomik erklärt immerhin 40 Prozent von dem, was da draußen passiert.

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Standard: Offiziell ist die Arbeitslosigkeit in den USA auf 7,8 Prozent gefallen. Doch in der Krise haben viele Amerikaner die Hoffnung auf einen Job aufgegeben und werden daher nicht als arbeitslos erfasst. Wird das Problem unterschätzt?

Mortensen: Die breiter gefassten Arbeitslosenzahlen sprechen von bis zu 15 Prozent Arbeitslosigkeit. Fest steht: Es sitzen mehr Leute in der Bredouille, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen. Dass immer mehr Amerikaner die Jobsuche aufgeben, wird noch ein langfristiges Problem für uns werden.

Standard: Und zwar?

Mortensen: Arbeitslosigkeit hat immer langfristige Folgen. Wer in jungen Jahren arbeitslos ist, kann das meistens nicht aufholen. Denn wer keine Arbeitserfahrung sammelt und damit weniger Humankapital anhäuft, wird das noch jahrelang in Form von niedrigeren Einkommen spüren. Studien zufolge kann dieser Effekt 20 bis 30 Jahre anhalten. Jugendarbeitslosigkeit hat die schwersten Folgen, und deshalb sollte die Politik hier auch rasch handeln.

Standard: Wie soll sie handeln?

Mortensen: Man kann nicht einfach mit dem Zauberstab wedeln, aber es gibt Werkzeuge für die Politik. Eine sehr einfache Maßnahme mit hohem Nutzen ist, den jungen Menschen bei der Jobsuche unter die Arme zu greifen, ihnen bei Bewerbungen zu helfen und sie bei der Jobsuche über die Grenzen der Bundesstaaten hinweg zu unterstützen. Auch Umschulungen wären möglich, aber die kosten viel Geld und haben weniger Effekt. In Großbritannien etwa wird gefördert, dass Arbeitslose selbstständig werden. Es gibt aber einen Haken: die Politiker. Heute ist die Unterstützung für neue Programme und Experimente gesunken, weil die Meinung vorherrscht, dass Arbeitslose einfach faul sind.

Standard: Das prägt auch die aktuelle politische Debatte in den USA im Vorfeld der Präsidentenwahl. Wird der Wahlausgang die Arbeitsmarktkrise beeinflussen?

Mortensen: Ich fürchte nicht. Das Problem mit den Wahlen im November ist, dass sie die verfahrene Situation in Washington wohl nicht beenden werden. Jedes effektive Wirtschaftsprogramm muss die Unterstützung des Präsidenten und des Kongresses haben. Wenn aber die Republikaner weiter den Kongress dominieren, wird es auch für einen wiedergewählten Obama schwierig.

Standard: Wie sollte der US-Arbeitsmarkt reformiert werden?

Mortensen: Das Wichtigste wären Maßnahmen, die Jugendlichen helfen, Jobs zu finden. Ich glaube aber, dass der US-Arbeitsmarkt an sich nicht so viel Reform braucht. Wir haben derzeit vor allem das Problem, dass die Nachfrage nicht hoch genug ist, weil Unternehmen und Konsumenten verunsichert sind. Wir haben aber nicht die Probleme Südeuropas, diese Kombination aus Betrug und Arbeitsverträgen auf Zeit. Dort gibt es Arbeitsmarktstrukturen, die einfach nicht funktionieren.

Standard: Würden Hartz-IV-Reformen wie in Deutschland Abhilfe schaffen?

Mortensen: Es würde bestimmt helfen. Aber die deutsche Erfahrung ist eine andere. Die Probleme Südeuropas sind viel größer als jene von Deutschland. Deutschland hatte keine Immobilienkrise und damit nicht die Finanzprobleme, die heute die Haushalte in Spanien oder Irland so unter Druck setzen. Und dazu kommt, dass die Deutschen Güter produzieren, die von den Chinesen und den USA hoch geschätzt sind. Man darf daher nicht allzu hohe Erwartungen an Reformen in Südeuropa haben, etwa, dass sie kurzfristig die akuten Probleme lösen.

Standard: In einer Dokumentation zur Nobelpreisverleihung 2010 wurden Sie und Ihre Frau Beverly, eine Theologin an der Northwestern University, interviewt. Sie beide sollen sich auf Ihrer Hochzeitsreise intensiv darüber gestritten haben, ob der Mensch altruistisch, also selbstlos, agieren könne.

Mortensen: Das war eine lange, persönliche Debatte.

Standard: In der Volkswirtschaftslehre steht der Homo oeconomicus im Fokus der rationalen Rechner.

Mortensen: Meine Frau hat natürlich recht. Es gibt noch etwas anderes als das rein ökonomische. Auch meine eigene Methodik ist eingeschränkt, mich interessieren ökonomische Anreize. Aber die Ökonomik erklärt immerhin 40 Prozent von dem, was da draußen passiert.

Standard: Was erklärt sie nicht?

Mortensen: Ökonomen können wirklich dafür kritisiert werden, weil wir oft die politischen Aspekte vernachlässigen. Politiker müssen immer einen Ausgleich zwischen Interessen schaffen, und das ökonomische Interesse ist nur eines von vielen. Wir Ökonomen brauchen ein besseres Modell der Politik, um etwa die Eigeninteressen von einzelnen Gruppen besser zu verstehen.  (Lukas Sustala, DER STANDARD; 6./7.10.2012)