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Die große Frage derzeit: Wie bringt man einen kranken Mechanismus wieder auf die Beine?

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Clemens Fuest: Die europäische Politik hat bislang nicht zeigen können, dass sie für den schwierigen Weg der Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit in den Krisenstaaten ein Rezept hat, das funktioniert.

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Für Finanzwissenschaftler Clemens Fuest ist die Bankenunion keine Sache, die man jetzt sofort und vollständig umsetzen kann. Wenn man in der aktuellen Lage der Eurozone eine Bankenunion mit gemeinsamer Einlagensicherung und gemeinsamem Restrukturierungsfonds eingehen würde, würde man Risiken zulasten der nordeuropäischen Banken, Sparer und Steuerzahler umverteilen, sagt der Wissenschaftler im Interview mit derStandard.at. Einen zweiten Schuldenschnitt in Griechenland hält er für ebenso unerlässlich wie die schmerzhaften Sparmaßnahmen in den südlichen EU-Ländern.

derStandard.at: Der ESM tritt nach vielen Anstrengungen in Kraft. Wäre die Union ein im Bau befindliches Gebäude, welche Funktion käme dem Rettungsfonds zu?  

Fuest: Ich würde sagen, das ist ein Stützpfeiler.

derStandard.at: Die Bankenunion wäre der nächste Stützpfeiler?

Fuest: Ich halte die Bankenunion für bedeutender als den ESM. Eine funktionierende Bankenunion hätte schon den Charakter einer Art Zwischendecke, die das Ganze auch zusammenhält.   

derStandard.at: Ein wichtiger Bestandteil der Bankenunion wäre eine gemeinsame europäische Einlagensicherung. In der Praxis hieße das, österreichische Steuerzahler würden für griechische Einlagen geradestehen. Die Österreichische Finanzministerin ist so wie andere auch strikt dagegen. Wie wichtig ist dieses Instrument für die Bankenunion?   

Fuest: Einlagensicherung heißt ja zunächst einmal, dass Banken in einen gemeinsamen Topf einzahlen. Aus diesem Topf werden dann Sparer entschädigt, wenn ihre Bank Probleme hat. Das betrifft noch nicht die Steuerzahler, die Sparer allerdings schon. Die Steuerzahler wären eher gefragt, wenn es darum geht, einen Restrukturierungsfonds in der Bankenunion zu haben, mit dem insolvente Banken gestützt werden. Dass es in beiden Fällen Bedenken gibt, ist nachvollziehbar. Das zeigt auch gleich, dass die Bankenunion keine Sache ist, die man jetzt sofort und vollständig umsetzen kann.

derStandard.at: Wie muss die Reihenfolge aussehen?

Fuest: Man sollte mit einer gemeinsamen Bankenaufsicht und gemeinsamen Bankenregulierung beginnen. Bei der Einlagensicherung ist es wie bei jeder anderen Versicherung auch: Man kann den Vertrag nicht abschließen, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Das heißt: Bevor eine Bank in eine Einlagensicherung oder in einen gemeinsamen Restrukturierungsfonds kann, muss sichergestellt werden, dass sie solide ist, dass die Risiken, die sie mitbringt, bekannt sind und die Versicherungsprämie, die sie zahlt, den Risiken entspricht.

Wenn man in der aktuellen Lage der Eurozone eine Bankenunion mit gemeinsamer Einlagensicherung und gemeinsamem Restrukturierungsfonds eingehen würde, würde man Risiken zulasten der nordeuropäischen Banken, Sparer und Steuerzahler umverteilen. Natürlich kann man argumentieren, dass die Krise ohne eine solche Umverteilung nicht zu überwinden sei. Aber dann sollte man offen darüber reden. Eine solche Umverteilung darf den Menschen nicht unter dem Deckmantel des Projekts Bankenunion untergeschoben werden.

derStandard.at: Die Überwachung durch die EZB hätte bis zum Jahresende kommen sollen. Der Zeitplan geriet aber schon gehörig ins Wanken. Welchen Zeitraum halten Sie für realistisch?

Fuest: Bis die Bankenunion voll funktionsfähig ist, wird es mehrere Jahre dauern. Aber der Einstieg kann schneller gehen. Einstieg bedeutet, dass man sich vielleicht auf bestimmte Grundsätze der Bankenunion einigt, man schon einmal eine Art Kernaufsicht errichtet und mit ein paar großen Banken anfängt. Dass es schon am  1. Jänner 2013 losgehen soll, halte ich allerdings für sehr ehrgeizig.

derStandard.at: Der Vorschlag der EU-Kommission, die Bankenaufsicht in der Eurozone auf die EZB zu übertragen, stößt auf ziemlichen Widerstand bei zahlreichen Mitgliedsstaaten, aber auch im Straßburger Parlament. Sind die Sorgen, es gäbe zu wenig demokratische Kontrolle, berechtigt?

Fuest: Das Hauptproblem ist nicht die demokratische Kontrolle. Auch eine von der EZB getrennte, unabhängige Bankenaufsicht würde ja nur indirekt demokratisch kontrolliert. Der entscheidende Punkt ist, ob es zwischen Geldpolitik und Bankenaufsicht Interessenkonflikte geben kann.

Die Frage ist, ob es dazu kommen kann, dass die EZB beispielsweise eine Zinserhöhung vermeidet, die zur Inflationsbekämpfung geboten ist, weil die Bank in ihrer Rolle als Bankenaufsicht fürchtet, bestimmte Banken könnten durch die Zinserhöhung in Schwierigkeiten geraten. Wenn man das als Problem ansieht, kann die Bankenaufsicht bei der EZB nur eine Zwischenlösung sein. Langfristig würde man anstreben, die beiden zu trennen. Kurzfristig will man die EZB mit der Bankenaufsicht betrauen, weil dort die notwendige Expertise leichter verfügbar ist und die Wege kürzer sind.

derStandard.at: Neben Finanzmarktstabilität hat die Union jede Menge anderer Probleme. Griechenland ist das erste Euroland mit einer partiellen Schuldenrestrukturierung, und es könnte auch Kandidat für einen zweiten Schuldenschnitt werden. Halten Sie das für wahrscheinlich?

Fuest: Ich halte das nicht nur für wahrscheinlich, sondern für unausweichlich. Das Land kann seine Schulden, die es derzeit hat, nicht vollständig zurückzahlen. Dafür fehlen einfach die wirtschaftlichen Grundlagen.

derStandard.at: Der Internationale Währungsfonds hat die Notwendigkeit einer Reduktion der weiter steigenden Schuldenlast Griechenlands schon angedeutet. Statt eines mittelfristigen Abbaus in Richtung 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Ergebnis der erfolgten Krisenmaßnahmen dürfte die Verschuldung bis Jahresende auf rund 180 Prozent steigen. In welchem Ausmaß wird man über einen Schuldenschnitt reden müssen?

Fuest: Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer zu sagen. Es kommt darauf an, wie schnell man den Schuldenschnitt macht und von welchen Maßnahmen das sonst noch begleitet wird. Wenn es in Griechenland ganz schlecht läuft, kann es durchaus passieren, dass das Land dauerhaft Subventionsempfänger bleibt.

Letztlich wird die Frage, was das Land überhaupt an Schulden zurückzahlen kann, sehr stark davon abhängen, ob das Notwendige getan wird, damit die griechische Wirtschaft wieder wachsen kann. Das bedeutet, Löhne senken, Preise senken, die Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig machen.

derStandard.at: Die Meinungen darüber, wie erfolgreich Griechenland mit seinen Maßnahmen ist, gehen weit auseinander. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Fuest: Das ist von außen sehr schwer zu beurteilen, weil bestimmte ökonomische Daten derzeit überhaupt nicht verfügbar sind. Für mich ist aber klar, dass da noch sehr viel zu tun ist, auch wenn die Griechen durchaus Reformen in Angriff genommen haben. Die Schwierigkeit ist die, dass es mit dem Sparen, also dem Senken von Staatsausgaben und dem Erhöhen von Steuern allein nicht getan ist.

Das Hauptproblem ist, dass die Wirtschaft wieder auf eine gesunde Basis kommen muss. Man braucht Unternehmen, die Produkte anbieten, die jemand kaufen will. Ein Land kann nur dann seine Schulden zurückzahlen, wenn es mehr exportiert, als es importiert. Da ist bislang noch nicht genug geschehen. Hinzu kommt, dass die hochgradige Unsicherheit über die Zukunft und die politisch labile Situation keine guten Bedingungen für einen Wirtschaftsaufschwung bieten.

derStandard.at: Auch andere Euroländer schleppen sich in der Schuldenkrise von Monat zu Monat, mehrere Staaten sind völlig überschuldet. Müsste man nicht auch da über umfassende Restrukturierungen der Schulden nachdenken?

Fuest: Das ist nicht falsch. Aber es gilt zu bedenken, dass man sich dabei auf schwieriges Terrain begibt. Den richtigen Zeitpunkt dazu hat man wohl verpasst. Die Politik in Europa hat in den letzten Monaten versucht, die Investoren zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, dass Schuldenrestrukturierung nur in Griechenland vorkommen wird. Die EZB hat weitreichende Zusagen gemacht, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen. Damit signalisiert sie, dass es wohl nicht mehr zu Restrukturierungen kommt.

Diese Zusage hat auch Wirkung gezeigt, die Renditen sind heruntergegangen. Die Zusage der EZB kann allerdings nicht garantieren, dass die Länder es auch wirklich schaffen, ihre Schulden zurückzahlen. Das können sie am Ende nur, wenn das Wirtschaftswachstum zurückkehrt. Damit sind wir wieder beim Thema Wettbewerbsfähigkeit. Das Versprechen, keine weiteren Schuldenschnitte durchzuführen, ist eine Wette darauf, dass die Krisenstaaten sich bald erholen. Wenn das nicht klappt, wird man dieses Versprechen nicht halten können.  

derStandard.at: Das Vertrauen in die Zukunft der Währungsunion ist derzeit nicht nur an den Kapitalmärkten, sondern auch bei den Bürgern und Bürgerinnen gering. Wie kann man es zurückgewinnen?

Fuest: Das ist sehr schwierig. Um das Vertrauen zurückzugewinnen, müssen die Staaten der Eurozone zeigen, dass die Wirtschaft in den Krisenstaaten sich innerhalb der Währungsunion erholen kann. Die größte Herausforderung ist dabei die Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit, die obendrein mit einer Sanierung der Staatsfinanzen kombiniert werden muss. Bei flexiblen Wechselkursen könnten die Krisenstaaten abwerten, das würde sehr helfen. Dieser Weg ist innerhalb der Eurozone versperrt. Die Krisenstaaten befinden sich in einer Art Währungsfalle, und sie müssen die Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnverzicht und Preissenkungen wiedergewinnen.  

Wie schwer das ist, hat der Versuch der portugiesischen Regierung vor zwei Wochen gezeigt: Man wollte Sozialabgaben der Arbeitgeber senken und die der Arbeitnehmer erhöhen. Ziel war, die Kosten der Unternehmen zu senken, ohne den Staatshaushalt zu belasten. Das hätte aber bedeutet, die Nettolöhne zu senken. Dabei werden der Bevölkerung Opfer zugemutet. Das Einkommen sinkt, aber die Ausgaben für Mieten und Lebensmittel sinken nicht oder erst mit langer Verzögerung. Deswegen gab es massive Proteste, und die portugiesische Regierung musste den Plan zurückziehen. Das Problem der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit ist ungelöst.  

derStandard.at: Die Proteste werden immer mehr und stärker ...

Fuest: Die europäische Politik hat bislang nicht zeigen können, dass sie für den schwierigen Weg der Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit in den Krisenstaaten ein Rezept hat, das funktioniert. Es wird auch immer wieder verlangt, die Staaten in Nordeuropa sollten sich anpassen und Löhne und Preise erhöhen. Aber dort besteht wenig Bereitschaft, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden.

Viele Leute glauben, dass die Währungsunion ohne dauerhafte Transfers des Nordens an den Süden nicht überleben kann. Das ist aber kein gangbarer Weg. Eine Transferunion würde bedeuten, dass die Steuern in den nördlichen Ländern so erhöht werden müssten, dass die Wachstumskräfte in der Eurozone insgesamt erlahmen. Insofern hat die Eurozone sehr ernste Probleme. Erst wenn es gelingt, diese Probleme zu lösen, wird das Vertrauen in die Eurozone zurückkehren.

derStandard.at: In Österreich versucht man Impulse zu setzen, ohne extra Geld in die Hand zu nehmen. Ist das schon ein Schritt in die richtige Richtung?

Fuest: Ich fürchte, das reicht nicht. Investitionen in Bildung, innovative Technologien, beispielsweise im Umweltbereich, sind unentbehrlich. Aber bis man die Früchte dieser Investitionen ernten kann, vergeht viel Zeit. Diese Zeit hat Südeuropa nicht. Es gibt leider nur einen Weg für diese Länder, und das ist das Gesundschrumpfen über das Senken von Arbeitskosten und über das Steigern der preislichen Wettbewerbsfähigkeit.

derStandard.at: Wo liegt die Grenze zwischen Gesund- und Krankschrumpfen?

Fuest: Es ist wie bei einer Diät: Man darf nicht ganz aufhören, sich zu ernähren, aber man muss schmerzhaft wenig essen und vor allem lange durchhalten. Manche haben die Vorstellung, es sei an der Zeit, die Sparpolitik aufzugeben. Erholung sei nur möglich, wenn wieder mehr Geld ausgegeben wird. Dabei wird aber übersehen, dass die Krisenstaaten in Europa tief liegende strukturelle Probleme haben. Wenn man jetzt kreditfinanzierte Ausgabenprogramme startet, wird die Anpassung der Löhne und Preise nur verzögert und die Krise dauert am Ende länger. Man hat dann ein Strohfeuer gezündet, und wenn das abgebrannt ist, sind die Probleme größer als vorher.

derStandard.at: Sie forschen derzeit in Oxford und kommen bald nach Deutschland zurück. Eine der Fragen, die sie dann in Angriff nehmen wollen, sind die Folgen einer Fiskalunion. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass man heute noch keine Antworten kennt. Aber: Welche Fragen muss man stellen, um zu relevanten Antworten zu kommen?

Fuest: Die Fragen sind: Wie viel politische Integration in der Fiskalpolitik brauchen wir, damit die Währungsunion langfristig stabil sein kann? Kann eine Währungsunion überleben, ohne eine Transferunion zu werden? Kann die Währungsunion ohne eine starke Zentralisierung der Wirtschaftspolitik in Europa überleben? Oder brauchen wir das, was der ehemalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet vorgeschlagen hat: ein europäisches Finanzministerium, das notfalls gegen den Willen der nationalen Parlamente und Regierungen in die nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik eingreifen kann?  

derStandard.at: Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter sprach von der kreativen Zerstörung in der Ökonomie. Derzeit hat man den Eindruck, dass es mehr Zerstörung als Kreativität gibt - oder sehen wir nur die neuen Ansätze noch nicht?

Fuest: Die Botschaft von Schumpeter bedeutet, dass man den wirtschaftlichen Wandel nicht bewältigen kann, indem man bestehende Unternehmen, deren Produkte nicht mehr nachgefragt werden,  künstlich aufrechterhält. Das Aufgeben bestehender Arbeitsplätze ist schmerzhaft und wirkt zerstörerisch, und das Kreative und Neue ist meistens erst später sichtbar.

Diese Schmerzen sind in Anpassungskrisen, wie wir sie derzeit erleben, besonders deutlich spürbar. Die kreativen Schumpeter'schen Unternehmer, die neue wirtschaftliche Perspektiven bringen, sind sicher vorhanden, aber sie sind noch nicht sichtbar. Die kann die Politik auch nicht hervorzaubern. Das braucht Zeit.

derStandard.at: So gesehen müssen wir also geduldig weiterbauen?

Fuest: Genau. So richtig behaglich ist ein Haus, das nur aus Stützpfeiler und Zwischendecke besteht, noch nicht. (Regina Bruckner, derStandard.at, 10.10.2012)