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"Read my lips!" Klimts "Judith" regte Eric Kandel zu allerhand neuroästhetischen Spekulationen an.

Foto: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Für die Juden war Judith, wie Eric Kandel in seinem neuen Buch "Das Zeitalter der Erkenntnis" schreibt, "eine unerschrockene, sich aufopfernde Heldin, die ihr Volk vor Holofernes gerettet hat". Gustav Klimt hingegen macht aus Judith eine zugleich erregte und erregende Femme fatale, die durch Holofernes' Köpfung sadistisch befriedigt scheint.

Klimts provokantes Frauenporträt, das im Belvedere ausgestellt ist, nimmt wiederum der Neurowissenschafter und Medizinnobelpreisträger zum Anlass, um darüber zu rätseln, was in unserem Gehirn beim Betrachten dieses Bilds passiert, um so seiner Faszination auf die Spur zu kommen: Kandel spekuliert darüber, wie bestimmte Elemente und Motive des Bilds entsprechende Neurotransmitter freisetzen könnten - nicht ohne einschränkend hinzuzufügen, dass die Neuroästhetik erst ganz am Anfang steht.

Kandels neuroästhetische Exkursion steht eher am Ende seines 700-seitigen, prächtig illustrierten Buches, das im ersten Teil eine anregende Auseinandersetzung mit dem "Goldenen Wien um 1900" ist. Anders als Carl Schorske erklärt Kandel die künstlerische Blütezeit der Stadt nicht aus den politischen Umständen, sondern geht ihren möglichen Ursprüngen in der Medizin nach. Damals proklamierte der Pathologe Carl von Rokitansky, dass man unter die Oberfläche der Haut schauen müsse, um zur Wahrheit zu gelangen.

Genau dieses Prinzip sieht der Autor nicht nur in den Porträts von Klimt und Kollegen umgesetzt, sondern auch bei Freud und Schnitzler, den Erforschern des Unbewussten - womit sich Kandel im Grunde selbst in diese Tradition eingeschrieben hat. (tasch, DER STANDARD, 10.10.2012)