Wien - Die Entwicklung zum klassischen Fotoautomaten, bei dem man drei Minuten warten musste, bis aus dem seitlichen Schlitz ein Streifen mit vier Fotos fiel, passierte in mehreren Schritten. Der erste funktionstüchtige und öffentlich aufgestellte Apparat wurde 1889 auf der Pariser Weltausstellung vorgeführt. Der Deutsche Carl Sasse ließ 1896 das Negativ-Positiv-Verfahren patentieren, die Chemische Fabrik auf Aktien (vormals E. Schering) führte 1900 das Prinzip des Bildstreifens ein.

Und Anatol Josepho, ein sibirischer Jude, der 1923 in die USA eingewandert war, entwickelte 1925 die Idee der Fotokabine. Den ersten Prototyp installierte er am Broadway - und der Photomaton schlug ein wie die Bombe: Bereits im März 1927, noch vor der Patenterteilung, verkaufte Josepho die Rechte für eine Million Dollar.

Anfänglich wurden die Kabinen oft in Kaufhäusern aufgestellt. Damit das Blitzlicht nicht den Verkauf störte, brachten die Betreiber einen Vorhang an. Just dieser, alsbald fixer Bestandteil, machte (und macht noch immer) den Reiz aus: Durch ihn wird die Kabine, die in der Regel an belebten Plätzen im öffentlichen Raum zu finden ist, zu einem intimen Ort. Da lässt sich zum Beispiel schmusen.

Und nicht nur das: Man kann sich ohne unmittelbare Zeugen und ohne Spuren zu hinterlassen (die Kamera hat kein Gedächtnis) beim Sex fotografieren lassen. Oder dem Objektiv stolz das Gemächt präsentieren. Was Mitte der 1980er-Jahre in den prüden Staaten dazu führte, dass die Länge des Vorhangs um die Hälfte gekürzt werden musste.

Auf welche Ideen die Menschen kommen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen: Das zeigt die Ausstellung Foto-Automaten-Kunst bis 13. Jänner im Kunsthaus Wien anhand hunderter kleiner Bildchen. Denn es gibt Sammler, die süchtig in Papierkörben nach Abbildern stöbern. Sie rekonstruieren zerrissene Fotos und legen thematisch geordnete Alben an - etwa mit sich küssenden Pärchen.

Die Surrealisten waren die Ersten, die den Bilderstreifen als künstlerisches Medium nutzten: 16 Selbstporträts - u. a. von André Breton, Luis Buñuel und Salvator Dalí - wurden im Dezember 1929 als Fotomontage in der letzten Ausgabe der Zeitschrift La Révolution Surréaliste veröffentlicht.

Ab 1963 nutzte Andy Warhol eine Fotokabine, die er in seiner Factory aufstellen ließ: Passfotos von Freunden wie von bekannten Persönlichkeiten verarbeitete er zu groß- oder größerformatigen Serigrafien. Auch er selbst stellte sich immer wieder der automatisch agierenden Kamera: Dem Gerücht nach habe er sich bei einer Serie - die Streifen haben ja als Bilderfolge ein narratives Element - befriedigen lassen. Auf den "Kadern" ist jedenfalls, während Wahol mit seiner Sonnenbrille hantiert, der Haarschippel eines Hinterkopfs zu entdecken.

Ansturm auf der Biennale

Und 1972 realisierte Franco Vaccari auf der Biennale Venedig eine interaktive Ausstellung in Echtzeit: Er forderte die Besucher auf, sich in der Fotokabine ablichten zu lassen und die Ergebnisse auf den Wänden des Raumes zu präsentieren. Rund 40.000 Passfotos zeugen vom Ansturm.

Foto-Automaten-Kunst, übernommen vom Musée d'Élysée in Lausanne, beschäftigt sich aber nicht nur mit den vielfältigen Ergebnissen, sondern auch mit der Kabine (etwa in Fotos und Filmen) und der Passfoto-Ästhetik, die z. B. Thomas Ruff in seinen Por-träts nachzuempfinden versuchte.

Als Beitrag aus Österreich sind einzig ein paar Face Farces von Arnulf Rainer zu sehen. Schade, dass nicht einmal der Versuch unternommen wurde, die Schau zu ergänzen - beispielsweise um die Fotokabinen-Installation Make Love von Zenita Komad oder die Passfoto-Serie von André Heller und Christian Brandstätter. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 11.10.2012)