Wer mehr ausgibt, als er einnimmt, muss sparen. Diesen Grundsatz verankern die EU-Eliten seit 20 Jahren in Regeln - von den Maastricht-Kriterien bis zum Fiskalpakt.

Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, dann ist Arbeit zu teuer, also sollen die Reallöhne schwächer wachsen als die Produktivität. Dies ist seit 30 Jahren der Fall: Die Lohnquote sinkt.

Wenn die Lebenserwartung steigt, dann muss man länger arbeiten, sonst ist das Pensionssystem in Gefahr.

Ist das so? Symptomtherapien können die Krankheit verschlimmern: Seit sich die EU dem Sparen verschrieben hat, ist die Staatsschuldenquote stärker gestiegen als je zuvor. Das Gleiche gilt für das Rezept der Lohnzurückhaltung: Seit die Reallöhne hinter der Produktivität zurückbleiben (seit 30 Jahren!), steigt die Arbeitslosigkeit immer mehr.

Grund: Die einfachen Therapien können wesentliche Kettenreaktionen nicht berücksichtigen.

Wenn etwa Ölpreisschocks oder Finanzkrisen Rezessionen verursachen, erleidet der Staat ein höheres Defizit. Versucht er, dieses zu senken, ohne davor sichergestellt zu haben, dass die Unternehmer ihr Defizit ausweiten (mehr investieren) oder die Haushalte ihre Überschüsse senken (mehr konsumieren), dann produziert die Sparpolitik die nächste Rezession (wie derzeit in Europa).

Falsche Heilsverkünder

Wenn in Südeuropa Reallöhne und Pensionen gekürzt werden, um die Wirtschaft zu stärken, wird das Gegenteil erreicht: Die Schwächung von Kaufkraft und Vertrauen lässt Konsum und Investitionen einbrechen, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen massiv. Am stärksten betroffen sind die Jungen.

Auch die "Common Sense"-Empfehlung - wenn die Lebenserwartung steigt, muss man länger arbeiten - könnte sich als zu einfach erweisen. Bei steigendem Wohlstand wäre es ökonomisch und ökologisch sinnvoller, die Lebensarbeitszeit zu senken - allerdings kommt man dann um die Verteilungsfrage nicht herum...

Fangen wir mit der Diagnose an: Schuld an der Misere sei das niedrige Pensionsantrittsalter. Warum ist dieses denn seit den 1970er Jahren gesunken? Im Wesentlichen: Weil immer weniger Jobs geschaffen werden. Das System reagierte zunächst mit Frühpensionierungen. Dies trug dazu bei, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Österreich kleiner blieb als anderswo, doch die finanzielle Belastung stieg. Seit den 1990er Jahren wird der Mangel an "normalen" Jobs durch Schaffung prekärer Arbeitsverhältnisse "gemildert". Damit fließt aber weniger Geld in die Sozialsysteme.

Aber warum geht das Job-Wachstum seit 40 Jahren zurück (bei Vollbeschäftigung hätte unser Pensionssystem kaum ein Problem)? Kurzantwort: In den 1950er und 1960er Jahren lenken keynesianische Rahmenbedingungen das Gewinnstreben auf die Realwirtschaft. Bei permanenter Vollbeschäftigung gehen Gewerkschaften und Sozialdemokratie in die Offensive, der Zeitgeist dreht nach links, die neoliberalen Losungen werden für Vermögende wieder attraktiv.

Die Ent-Fesselung der Finanzmärkte erschwert unternehmerisches Handeln. Bei instabilen Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Zinssätzen und Aktienkursen verlagert sich das Gewinnstreben von der (Job-)Produktion zu Spekulationen aller Art.

Zwischen 1982 und 2000 steigen die Aktienkurse fast auf das Zehnfache, Geld scheint arbeiten zu können, also lassen wir es für unsere Alterssicherung arbeiten! Die Umstellung auf Kapitaldeckung gibt dem Boom einen "langen Atem", der Crash 2000/2003 war das Vorbeben zur großen Krise. - Just zu dieser Zeit beginnt man auch in Österreich die Alchemie für die Altersvorsorge einzusetzen. Der ATX steigt bis 2007 auf das Fünffache, wer schon am Beginn Aktien hatte - in erster Linie Privatstiftungen - wird der große Gewinner, die meisten " Betriebspensionisten" und "Zukunftsvorsorgler" sind die Verlierer. Denn der ATX stürzt fast wieder auf sein Ausgangsniveau - die Pensionsfonds stiegen wie die Amateure zu spät ein und zu spät aus.

Ebenso wie Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung ist auch das Pensionsproblem Symptom eines Nicht-Funktionierens der gesamten " Spielanlage": Ein System, das sich am Grundsatz "Lassen wir unser Geld arbeiten" orientiert, in dem daher die Banker über die Unternehmer, die Finanzökonomie über die Politik und die marktreligiösen Geistesgrößen über handwerklich Denkende dominieren, zerstört sich selbst.

Die Pensionsreformen sind Teil dieses Implosionsprozesses: Unter den jetzigen "Spielbedingungen" wird die Anhebung des Pensionsantrittsalters die Jungendarbeitslosigkeit steigen lassen, bei gleichzeitiger Umsetzung des Fiskalpakts und zunehmender Ungleichheit wird die Rezession 2013 in eine Depression gleiten. Ein neuerlicher Aktienkursverfall ist dann wahrscheinlich, er wird die zweite und dritte "Pensionssäule" schwer ramponieren.

Mit Fortdauer der Depression werden sich die Politiker langsam von den marktreligiösen Experten emanzipieren (der IWF hat schon angefangen), man wird aus Not wieder lernen, systemisch zu denken, mit weniger Selbstgewissheit, dafür vor-sichtiger. Experimente mit Millionen Menschen, wie sie derzeit in Südeuropa durchgezogen werden, wird es so bald nicht mehr geben.

Dann wird man langsam die Hauptkomponenten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells stärken (wie nach der letzten Depression). Dazu gehören Vorrang für Unternehmertum gegenüber der Finanzalchemie und Sozialstaatlichkeit als Gegengewicht zur Marktkonkurrenz.

Daher gilt für die soziale Pensions-, Kranken- oder Arbeitslosenversicherung eben nicht: Jede(r) bekommt so viel raus, wie er/sie einbezahlt hat. (Stephan Schulmeister, DER STANDARD, 23.10.2012)