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Japans Premier Noda warnt vor dem Budgetnotstand.

Foto: AP/Koji Sasahara
Grafik: Standard
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Tokios Electric Town, ein verwinkeltes Einkaufsviertel im Nordosten der japanischen Hauptstadt, hält, was der Name verspricht. Ein Elektrogeschäft reiht sich an das nächste, alle fünf Meter dröhnt aus einem Laden der Lärm eines Fernsehers, einer Stereoanlage oder einer tanzenden Elektropuppe. Von oben sorgen sprechende Leuchtreklame, auf denen Werbefilme für Waschmaschinen und Kopfhörer eingespielt werden, für Dauerbeschallung. Dazwischen stehen Verkäufer, die per Megafon Sonderangebote hinausbrüllen. Wer noch nicht überzeugt ist, den sollen als Mangafiguren verkleidete Mädchen, in Minirock und mit rosa Haaren, in die Geschäfte locken.

Die Electric Town ist ein typisch japanisches Einkaufsviertel. Wer Hightech-Produkte sucht, wird enttäuscht. Das ist nicht die Designerwelt von Apple. Dafür gibt es hunderte Geschäfte mit Haushaltswaren und Schnickschnack. Es ist Freitagabend, fast jeder Laden ist voll. "Wie die Geschäfte gehen? Das sehen Sie doch: sehr gut", sagt ein Verkäufer, ehe er im Getümmel verschwindet.

Die Antwort kam unerwartet. Japans Wirtschaft kämpft seit 1991 mit den Nachwehen einer geplatzten Immobilien- und Kreditblase. Seit Anfang der 90er-Jahre stagniert die Wirtschaft. Weil die Immobilienpreise rapide fielen, stieg die Zahl der faulen Kredite, und eine Bank nach der anderen wurde vom Staat gerettet. Spekulative Blase, Bankenkrise, Stagnation: klingt für Europäer vertraut. In den vergangenen Monaten erschien eine Flut an Artikeln und ökonomischen Fachbeiträgen, die sich mit Japans Misere beschäftigen. Tenor: Japan macht einen schmerzhaften ökonomischen Abstieg durch, dieses "Japan-Syndrom", wie es der Economist nennt, wird auch Europa einholen.

"Japan-Syndrom" in Europa

Dabei gibt es auch Unterschiede: Die Arbeitslosigkeit in Japan zählt zu den niedrigsten auf der Welt, während sie in Südeuropa auf einem Rekordhoch liegt. Im japanischen Nationalstaat sind politische Entscheidungsfindungen einfacher als in dem 27-Staaten-Gebilde EU. Dafür kämpft Japan seit 15 Jahren mit einem fallenden Preisniveau, der Deflation, während Europa die Inflation fürchtet.

Trotz der Krisensymptome ist von der Misere in Tokio nichts zu spüren. Ob um den Bahnhof Shinjuku, in den Vierteln Shibuya oder Asakusa: Die Stadt ist voller Baustellen, an denen Hochhäuser und Einkaufszentren hochgezogen werden. Bettler auf den Straßen gibt es kaum. Aber vielleicht täuscht dieser Eindruck. Die Spurensuche nach der Krise, die in der Electric Town begann, führt zu Richard Koo, der Gäste in einem Tokioter Büroturm empfängt.

Koo ist Chefökonom von Nomura, einem der größten Investmenthäuser des Landes. Seitdem er sein Buch The Holy Grail of Macroeconomics veröffentlicht hat, eine Analyse der japanischen Krise, zählt Koo zu den weltweit gefragtesten Volkswirten. "Sie haben schon richtig gesehen", sagt er, "bei all dem schlechten Gerede über die japanische Wirtschaft sind ausländische Besucher oft erstaunt, weil der Lebensstandard hier zu den höchsten der Welt zählt. Japan ist sicher, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen sind gut ausgebaut. Die meisten Menschen haben wenig Grund, sich zu beklagen."

Dabei hat es vor 20 Jahren so ausgesehen, als würde das Land in der Krise versinken. "Der Kapitalismus spielte verrückt", sagt Koo. Weil die Immobilienpreise um 90 Prozent absackten, waren über Nacht nahezu alle Unternehmen pleite, weil in den Bilanzen den Schulden kaum noch Vermögen gegenüberstand. Konzerne trachteten nicht mehr danach, Profit zu maximieren, sondern bauten nur noch Schulden ab. Da half nicht einmal, dass die Zentralbank ihre Zinsen auf null senkte und Kredite so billig wurden wie nie zuvor. Niemand wollte sich verschulden, die private Investitionstätigkeit kam zum Erliegen.

Gestützt wurde das Land von seiner starken Exportindustrie. Noch entscheidender war aber für Koo, dass die Regierungen in Tokio zwischen 1991 und 2009 riesige Konjunkturpakte auflegten. Allein in den Bau von Autobahnen und Brücken wurden 4,8 Billionen Euro gesteckt. Die Interventionen kurbelten die Privatinvestitionen nicht an, sorgten aber dafür, dass Japans Wirtschaftsleistung seit 1991 nie gesunken ist.

Das Bemerkenswerte an Koos Ausührungen ist, dass er kein Anhänger einer üppigen Staatswirtschaft ist, im Gegenteil, "Private können es besser", sagt er. "Aber in Japan gab es keine Alternative. Ohne staatliche Hilfe wären wir in einer höllischen Depression versunken." Ob die EU sich ähnliche Konjunkturpakete leisten könnte? "Wenn reiche Länder wie Deutschland und Österreich mitmachen, warum nicht?", sagt Koo.

Selbst nach dem Gespräch mit ihm bleibt die Frage unbeantwortet, wie es Japan gelungen ist, die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten.

Die Spurensuche geht bei Florian Kohlbacher weiter, einem Österreicher, der seit neun Jahren in Tokio als Unternehmens- und Altenforscher lebt. Kohlbacher erzählt von einer kulturellen Besonderheit, die für Europa eine Herausforderung wäre: "Arbeit hat in Japan einen anderen Stellenwert als in Europa." Japaner gehen nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen, sondern auch, weil Arbeit als Dienst an der Gemeinschaft gesehen wird. Daher ist es nicht nur rechtlich schwierig Arbeitnehmer zu entlassen, es ist auch sozial verpönt. Japaner sind dafür weniger wählerisch, was die Art des Jobs betrifft. Die Krise hat auch in Japan Niedrigverdiener stärker getroffen als Reiche, wie in Europa wurde die Lohnverteilung ungleicher. Aber die Arbeitslosigkeit stieg selbst auf dem Höhepunkt der Krise nicht über 5,4 Prozent.

Hoher Lebensstandard, niedrige Arbeitslosigkeit: Die japanische Entwicklung hat freilich eine Kehrseite, und so führt der letzte Weg zu Shuji Kobayakawa, der bei der Notenbank arbeitet. 2007 schienen die Nachwehen der Immobilienblase entgültig vorbei zu sein, private Unternehmen investierten wieder, die Regierung wollte mit der Haushaltssanierung beginnen. Dann kam Lehman, die Exporte brachen ein, die Konsolidierung wurde verschoben. "Eines ist klar", sagt Kobayakawa, " die Uhr tickt."

Spürbare Nervosität

Denn Japan hat sich die Stabilität erkauft: Die Staatsverschuldung vervierfachte sich seit 1991. Die Risikozinsen für das Land sind niedriger als in Deutschland, denn der Staat ist fast nur bei inländischen Banken verschuldet, die kein Interesse daran haben, dass die Aufschläge steigen.

Aber schon ein kleines Ereignis könnte das Gleichgewicht zum Kippen bringen. Japan gibt ein Viertel seines Budgets für Zinszahlungen aus. Sollten die Risikoaufschläge nur leicht steigen, wäre es die Hälfte. Die Nervosität ist spürbar: Premier Yoshihiko Noda warnte am Montag vor einem "Budgetnotstand", weil Opposition und Regierung sich beim Haushalt gerade blockieren.

Aber sogar wenn die Stabilität fragil ist, bietet das Beispiel Japans für Europa einen großen Hoffnungsschimmer: Selbst 20 Jahre Krise müssen nicht notgedrungen zum Kollaps führen. (András Szigetvari, DER STANDARD, 30.10.2012)