Immer mehr, immer höher: Die Wachstumsraten von einst sind Vergangenheit, sie kehren auch nicht mehr zurück, meinen Experten. Die Folge davon ist, dass die Zahl der Arbeitslosen hoch bleibt - außer die Arbeit wird neu verteilt, meint Angelika Zahrnt.

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Ökonomin Angelika Zahrnt plädiert für eine neue Form des Wirtschaftens. Warum es kein "Weiter wie bisher" geben kann, sagte sie Günther Strobl.

STANDARD: Wo ist das Wachstum geblieben, das unsere Gesellschaft so reich gemacht hat?

Zahrnt: Es gibt in der Menschheitsgeschichte keine Wachstumskurve, die stetig steigt. Mit Beginn der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts etwa gab es einen deutlichen Wachstumsschub. Zuvor haben sich Aufschwung- und Niedergangsphasen abgewechselt. Erst seit dem Zweiten Weltkrieg ist es wirtschaftlich bei uns kontinuierlich bergauf gegangen. Die Folge davon ist, dass man nun glaubt, ohne wirtschaftliches Wachstum gehe es nicht.

STANDARD: Und geht es?

Zahrnt: So wie unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem konstruiert ist, sind wir tatsächlich auf mehr und vor allem starkes Wachstum angewiesen.

STANDARD: Ist fortwährendes Wirtschaftswachstum möglich?

Zahrnt: Es kann sein, dass mit dem Aufschwung grüner Technologien die Wirtschaft zumindest für eine gewisse Zeit wieder stärker wächst. Dass es in den hochentwickelten Ländern aber langfristig starkes Wirtschaftswachstum geben könnte, ist in der Tat eine Illusion. Die Wachstumsraten in allen hochentwickelten Industrieländern haben sich abgeflacht, was kein Wunder ist. Das Bruttosozialprodukt wächst ja insgesamt. Wenn auf den bereits hohen Sockel dann noch ein bestimmtes Wachstum absolut dazukommt, kommt relativ gesehen eine niedrigere Wachstumsrate heraus.

STANDARD: Es gab große Fortschritte im Bereich Technologie und Gesundheit, finanziert aus dem Jahr für Jahr erwirtschafteten Mehrwert.

Zahrnt: Wir sollten uns darauf einstellen, dass es keine höheren Wachstumsraten mehr gibt. Und wir sollten überlegen, wie Altersvorsorge, Gesundheitssystem und Beschäftigung auch ohne Wachstum gesichert werden können.

STANDARD: Trotzdem sagt der Mainstream der Ökonomen, dass es ohne starkes Wachstum nicht geht.

Zahrnt: Unter der Annahme, dass alles gleich bleibt, stimmt das auch. Unser bisheriger Weg war der, dass Mehrbeschäftigung nur durch Ausweitung der Produktion möglich war. Das geht aber nicht ad infinitum. Wer soll denn das alles kaufen? Auch die Produktivität nimmt jedes Jahr zu. Ich habe also starke Zweifel, dass die Annahmen stimmen.

STANDARD: Was sollte man also machen?

Zahrnt: Die Arbeitszeiten verkürzen. Es steht nirgends geschrieben, dass die Arbeitswoche 40 oder 36 Stunden haben muss. Österreich beispielsweise hat sich lange Zeit frühe Pensionsantrittszeiten geleistet. Ich würde nicht sagen, dass Österreich dadurch stark an Wettbewerbsfähigkeit verloren hätte. Es kommt auf das Gesamtbild an.

STANDARD: Geht das wirklich im Alleingang oder braucht es den internationalen Gleichklang?

Zahrnt: Dieses Argument ist bei fast allen anstehenden Veränderungen zu hören. Wenn man sich aber ansieht, wie unterschiedlich die Arbeitszeiten zwischen verschiedenen Ländern jetzt schon sind, dann ist das auch Ausdruck nationaler Präferenzen. Die USA etwa haben im Vergleich zu Europa deutlich höhere Arbeitszeiten.

STANDARD: Vielleicht sind wir schlicht produktiver?

Zahrnt: Das ist richtig. Und dann gibt es Phänomene wie Burnout. Unternehmen stellen fest, dass sie dafür sorgen müssen, die ständige Verfügbarkeit, die krankmacht, zurückzuschrauben. Die Produktivität sinkt, wenn Menschen längere Zeit ausfallen.

STANDARD: Dennoch hört man allerorten die Wachstumspeitsche knallen?

Zahrnt: Der Wachstumsfetischismus ist krank und macht krank.

STANDARD: Ihre Idee vom neuen Wirtschaften läuft auf Stagnation auf hohem Niveau hinaus?

Zahrnt: Wenn wir das jetzige Niveau halten könnten, wäre das sehr positiv für uns in den Industrieländern. Die Vorstellung, dass wir immer mehr draufsatteln müssen in Europa, ist für mich unverständlich. Viele Untersuchungen von Soziologen und Psychologen zeigen, dass Wachstum über ein bestimmtes materielles Niveau hinaus nicht glücklicher macht.

STANDARD: Gilt das auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer?

Zahrnt: Die brauchen Wachstum, um Armut zu beseitigen, Infrastruktur aufzubauen und die Entwicklung des Bildungs- und Gesundheitswesens zu finanzieren. Wir können aber helfen, dass sie nicht die gleichen Fehler machen, die wir begangen haben. (Günther Strobl, DER STANDARD, 2.11.2012)