Soziologe Güngörs Appell an die Jugend: "Wartet nicht darauf, dass die Bedingungen ideal sind. Das waren sie nie. Eignet euch die Welt an."

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Wir treffen uns im Café Corbaci im Museumsquartier, das geschmückt ist mit maurischen Kacheln. Was ist daran wienerisch?

Güngör: Erstens ist es gleich um die Ecke von meinem Büro. Und mir gefällt das Cross-Culture-Konzept: Das Wienerische der alten Hofstallungen im Museumsquartier, draußen vor den Fenstern sieht man die eingepassten, spektakulären Museumsneubauten, und hier herinnen wunderschöne maurische Kacheln. Das fällt mir in Wien zunehmend auf, dass Stile und Kulturen gemixt werden. Das hat mir immer schon gefallen.

STANDARD: Was hat Sie nach Österreich verschlagen?

Güngör: Das hört sich jetzt komisch an, aber diese Entscheidung habe ich hier im Museumsquartier getroffen. Ich war zu einem Vortrag eingeladen und saß an einem sonnigen Frühlingstag hier im Museumsquartier. Da habe ich festgestellt: Wenn es eine deutschsprachige Stadt gibt, in der ich leben möchte, dann ist es Wien. Ich hatte Angebote für Berlin und Hamburg, aber mich hat es hierher gezogen.

Ich liebe den Kontrast: eine große Metropole mit hohen Stadtqualitäten, und die Möglichkeit, gleich rundherum, in einer Stunde, in den Bergen zu sein. Und Sie können in jeden Fluss hineinspringen. Das erinnert mich an meine Kindheit in den kurdischen Bergen.

STANDARD: Sie haben in der Türkei, in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich länger gelebt, zudem sind Sie Soziologe. Können Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser vier Länder benennen?

Güngör: Die Gesellschaften sind unterschiedlicher und ähnlicher, als sie glauben. Die einen schaffen Nähe über Distanz. Die anderen schaffen erst Nähe, dann Distanz. Ostösterreich erscheint mir als das barockste, orientalisch-balkaneskeste der drei. Es ist das Land der Konjunktive, weniger der Imperative.

STANDARD: Sie bezeichnen sich vor Schülern gern als "türkisch-kurdische Version von Heidi". Was wollen Sie jungen Leuten damit sagen?

Güngör: Ihr werdet wahrscheinlich nicht immer dort leben, wo ihr geboren seid. Und aus einer "kurdisch-türkischen Heidi" kann jemand werden wie ich, der heute hier steht. Das ist auch wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass wir räumlich und sozial noch nie so mobil waren wie heute - egal, wo wir hineingeboren werden. Meine Botschaft ist: Wartet nicht darauf, dass die Bedingungen ideal werden, das waren sie nie. Eignet euch die Welt an, entwickelt Willen und Widerstandsfähigkeit, mit den Dingen umzugehen.

Ich habe das Gefühl, dass wir sehr schnell in einen Opferdiskurs fallen, uns passivisieren und dadurch die realen Gestaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten übersehen, die es trotz aller Hindernisse und Stolpersteine gibt.

STANDARD: Staatssekretär Kurz hat vorgeschlagen, "besonders integrierten" Ausländern die Erlangung der Staatsbürgerschaft nach sechs Jahren zu ermöglichen. Halten Sie das für eine gute Idee?

Güngör: Nachdem in Österreich über Jahre hinweg eine sehr restriktive, abwehrende und zum Teil auch fremdenfeindliche Haltung vorherrschte, wird mit dem Thema "beschleunigte Staatsbürgerschaft" erst einmal eine andere politische Haltung signalisiert. Es soll honoriert werden, was Menschen leisten. Aber die Kriterien, die aufgeführt werden, erscheinen mir insbesondere in der Kombination als zu hoch. Wie soll jemand in sechs Jahren einem vollzeitlichen Beruf nachgehen, zugleich die deutsche Sprache auf Maturaebene erlernen und sich dann, vermutlich noch neben Familie und sonstigem, auch noch drei Jahre lang ehrenamtlich engagieren?

Das alles wird wohl so nicht gehen, und somit läuft der Ansatz, den ich im Prinzip begrüße, Gefahr, kaum erreicht werden zu können. Ich hoffe, dass der Gesetzesvorschlag, der nun ausgearbeitet wird, sich viel stärker an den Lebensrealitäten orientiert. Mir fehlt auch komplett das Themenfeld einer erleichterten Staatsbürgerschaft von Kindern, die hier geboren sind. Es kann nicht sein, dass wir diesen Kindern, die hier geboren und aufgewachsen sind, sagen, dass sie eigentlich nicht dazugehören. Ich würde eine erleichterte Staatsbürgerschaft begrüßen, wie es das deutsche Optionsmodell vorsieht. Diese Kinder sind unsere Kinder und unsere gemeinsame Zukunft.

STANDARD: Kurz und Bildungsministerin Schmied streiten über Extraklassen für Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen. Wo stehen Sie?

Güngör: Ich halte den Vorstoß des Staatssekretärs, die Wichtigkeit des Bildungsthemas im Kontext der Integration zu forcieren und auf den dringenden Handlungsbedarf hinzuweisen, für sehr wichtig. Leider hantieren sowohl die linke als auch die rechte Seite mit sehr plakativen Argumenten, was eine differenzierte Betrachtungsweise verunmöglicht. Darunter leide ich, weil die Fragen auf dem Tisch liegen. Ich finde auch nicht, dass eigene Klassen Kinder stigmatisieren. Mich interessiert eher, welche Faktoren Kindern erleichtern, eine neue Sprache zu lernen.

STANDARD: Welche Faktoren?

Güngör: Viele Kinder sprechen mehrere Sprachen, und lange hat man das zugunsten des Deutschen missachtet oder übersehen. Die Förderung der Mehrsprachigkeit ist für die Identität der Jugend lichen und die Inter nationalität unseres Landes wichtig. Die Bedeutung der Erstsprache für den Erwerb der Zweitsprache Deutsch darf nicht unterschätzt, aber auch nicht überschätzt werden.

Es ist nicht so, dass Kinder nicht Deutsch lernen können, wenn sie ihre Muttersprache nicht perfekt können. Das wird zum Teil sehr eng geführt, das geht mir in die falsche Richtung. Wichtig ist auch: Egal, welche Sprache - sprechen, sprechen, sprechen ist entscheidend. So viel Sprachinput wie möglich.

STANDARD: Ist Schuleschwänzen eigentlich ein Integrationsproblem? Weil es der Integrationsstaatssekretär thematisierte, wird es als solches wahrgenommen.

Güngör: Man geht das Problem falsch an. Wir müssen schauen, wer hat überhaupt ein Problem mit Schulschwänzen, welche Schulen, welche Gruppen sind davon betroffen? Dass in Wien das Problem am größten ist und hier Schulkinder mit Migrationshintergrund die Mehrheit stellen, das wissen wir. Aber da schlägt viel mehr die soziale Schicht und Genderfragen als die Herkunft durch.

Der Migrationshintergrund bietet hier keine Erklärung, sondern nur einen Hinweis, genauer hinzusehen. Dass wir permanent alle Probleme und Defizite über Migration zu erklären versuchen, halte ich nicht nur für ermüdend, sondern auch für gefährlich. Ich glaube, der Hebel sind die Lehrer - sowohl beim Erwerb der Sprache als auch in dieser Frage. Ein Lehrer, der ein Gespür hat und engagiert ist, kann bei seinen Schülern viel bewegen.

STANDARD: Inwiefern?

Güngör: Ich glaube, nicht jeder ist zum Lehrer geeignet. Es fehlt oft das Einfühlen, in welcher Lebenswelt die Kinder stecken. Sie sind falsch ausgebildet. Die Lehrerausbildung geht immer noch vom durchschnittlichen österreichisch-stämmigen Schüler aus. Dass die Lehrer dann ein Problem in den Klassen haben, wundert mich nicht. Es gibt auch zu wenige männliche Lehrer. Wir brauchen künftig Lehrer und Lehrerinnen mit hoher Diversitätskompetenz, sprachlich und soziokulturell. Wenn das Kind keine Beziehung zum Lehrer hat, lernt es den Stoff nicht.

STANDARD: In Finnland und Schweden dürfen nicht alle, die es wollen, auch Lehrer werden. Es gibt strenge Aufnahmsprüfungen. Sind Sie auch in Österreich für Zugangsbeschränkungen zum Studium?

Güngör: Ja, das sollte man überlegen. Denn sozial gestörte Lehrer, die sich von der Lebenswelt ihrer Schüler immer mehr entfernen, sind verheerend für die Kinder. Und dann werden Sie die obendrein auch nicht los. Was glauben Sie, was mir so manche Schuldirektoren erzählen. Ich denke auch, die Besten der besten Lehrer gehören in die Hauptschulen, gar nicht so sehr in die Gymnasien. Dort ist die Aufgabe, die über unsere Zukunft entscheidet. Leider macht die Lehrergewerkschaft eine besitzstandwahrende, standesdünkelnde Politik, die an der Realität völlig vorbeigeht. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 2.11.2012)