Es war Kaiser Vespasian, der im ersten Jahrhundert nach Christus für die Benutzung öffentlicher Toiletten erstmals Geld verlangte. Die zu jener Zeit in den Straßen Roms aufgestellten Amphoren dienten der Bevölkerung als Latrinen. Der Kaiser verfiel angesichts eigener finanzieller Bedürfnisse auf die geniale Idee, das Anfüllen der öffentlichen Pinkelbehältnisse doch gleich auch zur Befüllung der leeren Staatskassen zu verwenden, und besteuerte kurzerhand die Benutzung der Amphoren. Seinem Sohn Titus, der ob der Wahl dieser Einnahmemöglichkeit nicht nur im übertragenen Sinne die Nase rümpfte, hielt Vespasian eine Münze unter das Riechorgan und sagte: "Pecunia non olet!" Geld stinkt nicht. Es ist doch ganz egal, womit man es verdient.

Der ORF erfülle seinen Bildungsauftrag nicht, rümpfen Kritiker, wie zuletzt Österreichs Chefmathematiker Rudolf Taschner in der Tageszeitung "Die Presse", ihre Nasen. Doch dieser Vorwurf muss mit aller Vehemenz zurückgewiesen werden. ORF-Fernsehdirektorin Kathrin Zechner selbst hat soeben den Beweis angetreten, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Österreichs willens und fähig ist, der austriakischen Plebs klassische Bildung zu vermitteln.

Der vor ca. zwei Wochen im ORF vor laufenden Kameras, also quasi coram publico, erstmals im österreichischen Fernsehen physisch verhaltensauffällig gewordene Juror der Castingshow "Die Große Chance", Sido, war von Zechner stante pede gefeuert worden, nachdem er dem zweiten großen Aushängeschild des Senders, Dominic Heinzl, einen K.-o.-Schlag verpasst hatte. Gewalt, so Zechner damals sinngemäß zu ihrer konsequenten Entscheidung, hätte im ORF nichts verloren und könne daher keinesfalls toleriert werden.

Am Mittwoch jedoch wurde überraschend bekanntgegeben, dass die Fernsehdirektorin Sido - natürlich "nach intensiven Gesprächen und reiflicher Überlegung" - eine zweite Chance, "es ist seine große, aber auch letzte", geben wolle.

Soll heißen: Sido ist ab sofort wieder mit von der Partie.

Handelte es sich bei Zechners Großmut um eine vorzeitige Weihnachtsamnestie mit christlichem Einschlag? Nein, wohl eher um die Vermittlung der klassischen, aber immer noch gültigen Idee hinter dem lateinischen Eingangszitat. Dem Rauswurf Sidos folgten nämlich nicht nur empörte Zuseherkommentare, sondern auch ein rapider Sinkflug der Quote. Dass der ORF lieber auf Moral verzichtet als auf seine Einnahmen, darf uns nicht überraschen. Pecunia non olet! (Georg Schildhammer, DER STANDARD, 2.11.2012)