Regisseur und Kurator Jörg Buttgereit in Archivaufnahmen - und heute: Für die Viennale wählte er Filme, die an der Schnittstelle zwischen Horror und Experiment angesiedelt sind.

Foto: Standard/Robert Newald

Wenn Jörg Buttgereit dem Publikum im Saal einen Film aus dem von ihm kuratierten Viennale-Special Something Different vorstellt, fläzt sich der Berliner auf die Leinwandbühne des Metrokinos, als wäre es sein Wohnzimmersofa. Ab und an blickt der hünenhaft Gewachsene mit dem strohblonden Haar auf seinen Notizblock - im Grunde eine überflüssige Geste, schließlich pickt er wie ein wandelndes Lexikon Anekdoten aus seinem Gedächtnis.

Kein Wunder, ist der heute 48-jährige doch quasi im Kino aufgewachsen: Bereits als Vierjähriger entdeckte er in unzähligen Nachmittagsvorstellungen die Welt japanischer Monsterfilme; und wenn spät nachts wieder einmal Frankenstein im Fernsehen ausgestrahlt wird, musste stets der Vater den kleinen Buben wecken.

Als Jugendlicher fand Buttgereit in der Westberliner Punkszene seine künstlerische Heimat, wo er mit Super-8-Kurzfilmen an seinem Gegenentwurf zum Mainstream-Kino bastelte.

Buttgereits Wurzeln liegen im Trivialen, doch sein Werk widersetzt sich der Einteilung in Hoch- und Subkultur: Einflüsse von Godard stehen gleichwertig neben Anleihen an den italienischen Splatter-Regisseur Lucio Fulcio. Die Filme stehen zwischen den Stühlen: Für Horrorfans sind sie zu sperrig, das klassische Arthouse-Publikum hingegen stößt sich an der expliziten Gewaltdarstellung und der punkig-dilettantischen Machart.

Dass Buttgereit ein Filmprogramm für die Viennale kuratiert, ist im Grunde ironisch, denn sein schmales Oeuvre als Spielfilmregisseur - seit fast 20 Jahren hat er keinen Kinofilm mehr gedreht -, durfte lange Zeit nicht öffentlich aufgeführt werden. Sein Debüt Nekromantik wird erst heuer, 25 Jahre nach seiner Entstehung, in Leeds das erste Mal legal auf einem Filmfestival gezeigt. Die Darstellung von Nekrophilie löste damals einen Skandal aus, dabei hat Buttgereit im Grunde nur klar benannt, was im Horrorfilm schon immer zusammen gehört: Sexualität und Tod.

Nekromantik war Independent-Film in Reinform: Die Schauspieler rekrutierte Buttgereit aus seinem Freundeskreis; gedreht wurde über einen Zeitraum von zwei Jahren an Wochenenden; und nach Fertigstellung tourte Buttgereit mit seiner Filmkopie durch Kinos in ganz Deutschland. Bei einer Filmvorführung in London sprach ihn einst ein sichtlich geschockter Clive Barker (Hellraiser) an: Er wollte wissen, wie man mit einem Film wie Nekromantik überhaupt durch die Filmzensur kommen könne. Buttgereits Antwort war simpel: "Wir haben damals einfach niemanden gefragt."

Als der deutsche Staat bei Erscheinen von Nekromantik 2 alle Negative vernichten lassen wollte, kam es zum Gerichtsprozess, den Buttgereit gewann. Von nun an wurden seine Filme offiziell zu Kunst erklärt und somit aus der Schmuddelecke herausgeholt. Plötzlich lud ihn Alexander Kluge zum Interview, weltweit trat er auf Filmfestivals auf und sein nächster Film Schramm, eine Reaktion auf den damaligen Serienkiller-Boom, wurde gar für den Max Ophüls Preis nominiert.

Die künstlerische Achtung bedeutete jedoch auch gleichzeitig Buttgereits Ende als Spielfilmregisseur. Seine Mission, die Grenzen der Zensur auszutesten, schien erfüllt. Schon bald wandte sich Buttgereit anderen Tätigkeitsfeldern zu: Am Theater verunsichert er das deutsche Bildungsbürgertum, für öffentlich-rechtliche Radioanstalten produziert er Hörspiele, und zwischendurch verfasst er Filmkritiken.

Jüngst bot ihm das Schauspielhaus Dortmund Räumlichkeiten und Schauspieler für die Realisierung eines Spielfilms an. "Früher hätte ich bei dem Angebot in die Hände geklatscht, aber irgendwie ist der Zug für mich abgefahren." Statt einen Spielfilm zu drehen, dachte sich Buttgereit: "Eigentlich wäre es ja viel geiler, hier Theater zu machen." (Fabian Kretschmer, Spezial, DER STANDARD, 6.11.2012)